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Digitalisierungsdiskussion

Telekommunikationskultur - reduzierte Kultur

Informatik Forum Nr. 4, Wien, Dez. 1990

 

Vorbemerkung zur vorliegenden online-Veröffentlichung
in goest.de, Nov. 2021,
also 31 Jahre später

1990 gab es noch kein Internet, keine Mobiltelefone und Flatrates. Es gab lediglich Vorläufer eines Datenaustausches über das Telefonnetz. Mithilfe eines „Modems“, das Tonsignale in digitale Information umwandelte, konnten Daten übertragen werden. Mit dem Bildschirmtext-System (BTX) wurde ein Display, eine Tastatur und das Telefon gekoppelt. Alternativ dazu versuchten Aktivist*innen , PCs über Telefon und Modem in einem Bürgernetz zu verbinden, das E-Mail aufsammelte und über ein Mailboxsystem verteilte.

Über die Erwähnung von Telefaxen wird man heute auch nur noch müde lächeln können. Die im Text beschriebenen Defizite einer rein technischen Kommunikation dürften aber in einer Zeit der Coronapandemie mit home-scooling, home-office und social distancing eindringlicher wirken als zur Zeit als dieser Text geschrieben wurde.

Günter J.Schäfer

TELEKOMMUNIKATIONSKULTUR - REDUZIERTE KULTUR

1. Wenn mir ein Haar besonders lang wächst,
reicht das nicht für eine gute Frisur
 

Die Millionenbeträge für Öffentlichkeitsarbeit und Propaganda zwecks Durchsetzung der neuen Telekommunikationstechniken (1) tragen dazu bei, daß der Eindruck entsteht, es stünde vor allem eine Ausweitung der Kommunikationsmöglichkeiten bevor und in der Industriepropaganda wird der Austausch von Telefaxen etc. als eine "Zunahme an Kommunikation" in der Gesellschaft gewertet. Kritische Stimmen weisen auf die Beschränktheit dieser Sichtweise und mögliche negative Auswirkungen für die Kommunikationskultur hin, falls es zur einer Dominanz technischer Kommunikation kommen sollte. Diese warnenden Stimmen werden mit medialer Macht (Fernsehwerbung, Kinospots, Großplakatanzeigen, Ganzseiten-Annoncen in Tageszeitungen und Zeitschriften für BTX und ISDN etc.) - von Herstellerindustrie und Bundespost plattzuwalzen versucht. Der folgende Beitrag soll daher vor allem der kritischen Sicht zu mehr Beachtung verhelfen.

Der Zweckenthusiasmus über die Entwicklung der Welt zu einem telekommunikativen, globalen Dorf, über Erreichbarkeit an jedem Ort und zu jeder Zeit etc., verdrängt systematisch einen Vergleich zwischen reduzierter technischer Kommunikation einerseits und der Komplexität direkt-menschlicher Kommunikation andererseits. Auf diesen Unterschied gilt es zu insistieren. So wie in der Diskussion über "Künstliche Intelligenz" (KI), natürlichsprachlichen "Mensch-Maschinen-Dialog" usw. der prinzipiellen Unterschied von Mensch und Maschine zu reflektieren ist, geht es nun darum, auf dem prinzipiellen Unterschied zwischen medialer und direkter Kommunikation zu beharren. Josef Weizenbaum hat in seiner Kritik an den KI-Fanatikern sehr früh darauf hingewiesen, daß menschliche Intelligenz nicht losgelöst von der Körperlichkeit des Menschen begriffen werden darf. Erich Fromm meinte, das Problem bestünde wohl weniger darin, daß Maschinen wie Menschen werden könnten, sondern eher, daß Menschen auf Maschinen reduziert würden. In diesem Sinne gilt es zu verhindern, daß der Kommunikationsbegriff abstraktifizierend auf "Informationsaustausch" oder gar "Datenaustausch" verkürzt und damit auf die Stufe von Maschinenkommunikation gestellt wird. Menschliche Kommunikationskultur ist komplex, kontextabhängig und körpergebunden.

Ein bei der deutschen Bundespost beliebtes Werbebild ist die Großmutter, die mit ihrem Enkelkind am Bild-Telefon spricht. Im Fernsehn wurde der Bundespostminister Schwarz-Schilling einmal befragt, worin denn die Vorteile der Glasfaserverkabelung für die Bevölkerung lägen. Ihm fiel nicht besseres ein, als auf dieses Beispiel mit Großmutter und Enkelkind am Bildtelefon hinzuweisen. Angenommen, es bestünde die Wahl zwischen Brief, Telefon, Bildtelefon oder gar keinem Kontakt, dann erlaubt das Bildtelefon sicher die höchtentwickeltste technische Kommunikation. Aber dennoch stellt sie nur eine Annäherung an prinzipielle Grenzen der technischen Kommunikationsform dar. Dies wird deutlich, wenn der Telekommunikation die kommunikativen Möglichkeiten eines ganz normalen Besuches der Großmutter gegenübergestellt werden. Das Enkelchen könnte sich auf den Schoß der Großmutter setzen, die Großmutter könnte dem Enkel schweigend beim Spielen zusehen, ohne daß der Gebührenzähler rattert und zu "möglichst viel Kommunikation in kurzer Zeit" zwingt. Und was sind schon tausend Bildtelefon-Küsse gegen einen echten?

Technische Kommunikation erfaßt nur einen Teil der Spannbreite menschlicher Ausdrucks- und Rezeptionsmöglichkeiten. Ein kulturelles Übergewicht dieser selektionierten Kommunkationsform könnte zu einer Verarmung menschlicher Kommunikationskultur führen, wenn andere Kommunikationsformen so wenig praktiziert würden, daß sie zusehens "auszutrocknen" drohen. Auch innerhalb der Palette von Telekommunikation gibt es bedenkenswerte Substitutionsprozesse. Z.B. wird die "Kunst des Briefeschreibens" durch die digitalisierte Instant-communication verdrängt. Die kulturelle Bedeutung läßt sich vielleicht mit dem Hinweis auf die Buch-Veröffentlichung von Briefwechseln bekannter Persönlichkeiten erhellen. Mensch stelle sich vor, anstelle der Briefwechsel von Kafka gäbe es die "Gesammelte Ausgabe der Kafka-Telefaxe" !

Nun werden auch neue Ausdrucksformen durch Telekommunikation und "neue Medien" wie auch Computer- und Videokunst ausprobiert. Weil hier der Eindruck entsteht, daß lediglich das Feld künstlerischer Darstellung durch neue Techniken erweitert würde, muß darauf hingewiesen werden, daß ein wichtiges Motiv für die finanzielle Förderung solcher Kunstrichtungen darin besteht, soziale "Aktzeptanz" für neue Medien zu schaffen und eine Ideensammlung für die Produktgestaltung in der Telekommunikation zu erhalten. Letztlich bleibt "Medienkunst" und "Telekommunikationskunst" den gleichen prinzipiellen Beschränkungen technischer Kommunikation unterworfen.

Telekommunikation beschränkt sich auf Text-, Daten-, Bild- und Tonübertragungen. Die Kommunikationsmöglichkeiten auf diesem speziellen Sektor der gesamten Kommunikationsformen-Palette werden durch TK erheblich gesteigert. Dies darf nicht den Blick darauf verstellen, was verloren geht, wenn technische Kommunikation zur dominanten Komunikationsform in einer Gesellschaft würde. Die Frage "Was wäre die Gesellschaft ohne Telefon?" z.B. wäre demnach zu ergänzen um die Frage "Was wäre die Gesellschaft, wenn das Telefon noch weiter den direkten menschlichen Kontakt verdrängt?".

 

2. Annäherung an prinzipielle Grenzen

Gegenüber der Textübertragung gibt das Fernsprechen zusätzliche Ausdrucksmöglichkeiten durch Veränderung der Lautstärke, Betonung, Stimmklang, Dialogverhalten wie gegenseitiges Unterbrechen, Schweigen, Pausen, Tonkommunikation durch Räuspern, Stöhnen, Ausrufe (oho, aha) oder Laute wie "mmh", "tz,tz,tz" usw.. Nun läßt sich das auch im Text schreiben, die Artikulationsmöglichkeiten der Geräusche umfaßt aber mehr als im Text möglich ist. So kann zwar ähnlich der Comic-Sprache z.B. "räusper,räusper" geschrieben oder sicherheitshalber einmal vermerkt werden "das ist ironische gemeint", aber Ironie, Zynismus, Trauer oder Freude, wie sie mit einer Stimme ausgedrückt werden können ist differenzierbarer. Weinen und Lachen sind textlich nicht reproduzierbare Tonkommunikation, auch wenn hochentwickelte Sprachfähigkeit eine Situation sehr intensiv textlich, bzw. verbal darstellen kann. Auch Sprechgeschwindigkeit und Hintergrundgeräusche können Informationsgehalt besitzen. Hintergrundgeräusche gehören zum "Kontext" und führen dazu, daß Aussagen anders interpretiert werden. Wenn im Hintergrund Schreibmaschinengeklapper zu hören ist, stellt das einen anderen Kontext dar als leise Musik, Glockenläuten oder Kindergeschrei.

Beim Fernsprechen bleibt eine Vielzahl von Ausdrucksformen, vor allem die visuelle Kommunikation ausgespart. Zwar kann z.B. parallel zum Fernsprechen ein Telefax mit einer Zeichnung oder einem Foto verschickt werden aber der durch Mimik und Gesten begleitete Dialog ist beim Fernsprechen nicht möglich. Die Weiterentwicklung zum Bildtelefon erlaubt auch nonverbale, mimische Kommunikation, die Körpersprache als Kommunikationsform bleibt dabei aufgrund des technisch vorgegebenen Bildausschnittes meist auf den Kopf bzw. das Gesicht beschränkt. Nun könnte der Bildausschnitt so groß gewählt werden, daß auch die Gesten der Hände oder der gesamte Körper sichtbar wäre. Dann könnten weitere Möglichkeiten der visuellen Körpersprache zur Geltung kommen.

Beim Bildtelefon ist die Zahl der KommunikationspartnerInnen zumeist auf eine Person beschränkt, die Zusammenschaltung mehrerer KommunikationspartnerInnen erfordert eine Videokonferenz. Dabei ist allerdings auch die Zahl der TeilnehmerInnen technisch begrenzt, weil die Größe der Bildschirme nur das Einblenden einer bestimmten Anzahl von Portraitbildern erlaubt. Die Videokonferenz, gegenwärtig wohl die komplexeste Kommunikationssituation auf technischer Basis, ist jedoch auch nur eine Annäherung an prinzipielle Grenzen. All jene Kommunikationsmöglichkeiten, die an die gleichzeitige Anwesenheit der Personen am gleichen Ort gebunden sind, bleiben ausgespart. Bestimmte Kommunikationssituationen wie z.B. ein "Arbeitsessen" oder der "Waldspaziergang" sind telekommunikativ nicht herstellbar, weil sie an Körperlichkeit gebunden sind. Die Gestaltung des Kommunikationskontextes ist bereits Kommunikation, denn sie signalisiert eine bestimmte Absicht, in welcher Weise kommuniziert werden soll. Spezifische Kommunikationssituationen herzustellen gehört zu den kulturellen Errungenschaften der Gesellschaft. Sie sind in vielen Fällen an Körperlichkeit wie dingliche Umgebung gebunden also prinzipiell nicht telekommunikativ herstellbar, ein Verzicht darauf würde einen kulturellen Verlust darstellen.

Fühlen, Berühren, Händedruck, Umarmung, Riechen, Schmecken, sich Gegenstände reichen, das alles kann nicht telekommunikativ kommuniziert werden. Sinnlich wahrnehmbare Umgebungseinflüsse wie Licht, Temperatur, Luft etc. sind bei räumlich getrennten KommunikationspartnerInnen meist unterschiedlich, bilden unterschiedliche Umgebungen und Kommunikations-"Kontexte". Hier besteht im Übrigen die Möglichkeit eine Verbindung zu sprachtheoretischen Überlegungen bezüglich der Kontextabhängigkeiten beim Sinnverstehen herzustellen. "Kontextabhängigkeit" und "Entsinnlichung der Kommunikation" sind wichtige Stichworte, entlang deren die kritische Betrachtung der Telekommunikation weiterentwickelt werden müßte.

 

3. Die einsame Masse der TelefoniererInnen

Die Betrachtung einer Kommunikationstechnik und ihrer prinzipiellen Grenzen ist eine Sache, die möglichen Folgen bei einer massenhaften Ausbreitung dieser Kommunikationstechnik ist eine andere. Dem vom Erfinder präsentierten, einzeln dastehenden Auto vermochte man nicht die strukturellen Folgen anzusehen, die seine massenhafte Anwendung mit sich bringen würde. Ähnlich verhielt es sich mit Fernseher und Telefon und ähnlich wird es mit den übrigen Telekommunikationstechniken werden.

Die Auswirkungen des Telefons auf die alltägliche Kommunikationskultur sind Vorboten derjenigen Auswirkungen die mit den neuen Informations- und Kommunikationstechniken auf uns zukommen. Da die Telekommunikation auch technisch gesehen z.B. mit BTX (2) und ISDN auf dem Telefonnetz aufbaut, bietet sich an, strukturelle und soziale Folgenabschätzungen mit der Analyse des Telefonierens zu beginnen. Dies kann hier nicht systematisch geleistet, sondern nur durch einige Beispiele veranschaulicht werden.

- Ökonomisierung der Kommunikation: ein kommerzielles voice-box-System hebt als Vorteil hervor, daß lange Redepausen beim Besprechen der voice-box automatisch eliminiert werden. Da die Sprachspeicher digital arbeiten, ist die Pausen-Eliminierung nurmehr eine Softwarefrage.

- Es gibt Leute, die wohnen ein paar hundert Meter voneinander entfernt und führen z.T. endlose Beziehungsgespräche am Telefon. Das Telefon ist für einige zu einem "Beziehungsapparat" geworden, der reale Treffen mit anderen Menschen ersetzt. Aus der daraus entstehenden Unbefriedigtheit entsteht evtl. die bereits alltagssprachlich typisierte "Telefonitis".

- Nahezu jedes Treffen wird heutzutage durch ein Telefonat vorher angekündigt, vielen fällt es schwer, sich vorzustellen, daß dies früher auch ohne Telefon ging. Beziehungen, Treffen werden durch telekommunikative Vorarbeit komplexer verplanbar.

- Anrufbeantworter entwickeln gegenwärtig eine Vielfalt von Reaktionen. Einige Leute scheuen sich, auf einen Anrufbeantworter zu sprechen, andererseits gibt es kreative Umgangsweisen: Einige bespielen den fremden Anrufbeantworter mit Radiomusik, geben ihren eigenen Anrufbeantwortertext ein etc.. Einige verstecken sich hinter dem Anrufbeantworter, benutzen ihn als einen Schutz vor überraschenden Anrufen.

- Ein bayrischer Kriminalobermeister des Polizeipräsidiums München weigerte sich, einen Zeugen persönlich zu befragen und holte sich die Genehmigung für eine telefonische Befragung, weil der Zeuge Aids-infiziert war.

Die allzeitige Erreichbarkeit durch das Telefon: dem Telefon wird es gestattet, nahezu jede Lebenssituation zu stören. Wer seinen Urlaub einmal ohne Telefon verbracht hat und auch nicht telefonisch erreichbar war vermerkt dies meist als einen wichtigen Aspekt der Erholung. Zukünftig wird dier Erreichbarkeit nicht mehr auf Büro, Privatwohnung incl. Schlafzimmer, Bad und Toilette beschränkt bleiben, sondern durch Mobilfunk, Bündelfunk, etc. auch die Erreichbarkeit im Auto oder durch kleine Mobilfunktelefone in der Westentasche bzw. Handtasche überall ermöglichen.

"Telefonterror" ist inzwischen schon zu einer kriminellen Kategorie geworden. 1987 wurde in Foix (Südfrankreich) ein Mann zu zwei Wochen haft verurteilt, weil er seine geschiedene Frau ein Jahr täglich bis zu 50 mal angerufen hatte. Er mußte außerdem eine Strafe zahlen wegen "Benützung des Telefons als Verfolgungswerkzeug". Der Knopffabrikant Erwin Friedl war vier Jahre einem anonymen Telefonterror ausgesetzt und nach seinem dritten Herzinfarkt 1985 verstorben. Die Ehefrau machte damals öffentlich den Psychodruck des Telefonterrors dafür verantwortlich. Es ist unglaublich, daß es Leute gibt, die eher sterben als sich dazu entschließen das Telefon abzumelden.

Kleinere und größere Tricks zwecks Abkoppelung von der Telefonerreichbarkeit sind z.B.: der Hörer wird daneben gelegt oder die Klingel wird leise gedreht und der Apparat in den Kühlschrank gestellt (eine wahre Begebenheit in meinem Bekanntenkreis). Die Beschädigung von privaten Telefonapparaten aufgrund gezielter Aggression, das Herausreißen der Telefonleitung, das an die Wand geworfene Telefon sind durchaus eine sozialpsychologische Untersuchung wert.

Die beste Parodie auf die allzeitige Erreichbarkeit ist in einem Film von Woody Allen zu sehen, wo einer der handelnden Personen bei jedem Szenenwechsel irgendjemanden anruft und ihm mitteilt, wie lange er nun unter der jetzigen Nummer zu erreichen ist, unter welcher Nummer er danach bis wieviel Uhr zu erreichen ist und so weiter. Eine fast ebenso gute ungewollte Ironie war in einem amerikanischen Serienkrimi zu sehen: zwei Typen prügeln sich, aber als das Telefon klingelt unterbrechen sie sofort die Prügelei und widmen sich dem Telefonat.  

Im folgenden soll durch Beispiele illustriert werden, in welchem

Maße das Telefonieren auch Einfluß auf sexuell motiviertes Verhalten haben kann:

- An einer Schulbehörde in New York haben Angestellte und Lehrer im Jahr 1988 auf Kosten der Stadt New York für 18.000 Dollar die Nummern von Telefonsex-Anbietern angewählt.

-1987 hatte der britische Rechnungshof aufgedeckt, daß die Beamten des Umweltministeriums in drei Monaten 1300 mal von ihren Dienstapparaten Telefonsex-Nummern wie z.B. von "Sexy Samantha", "Kurven-Colette" etc. angerufen hatten.

- Sexuelle Belästigungen über das Telefon ist für die meisten Frauen eine bekannte Sache. Peinlich für den Rektor der Washingtoner Universität, daß er dabei erwischt wurde, weil ein caller-identification-Gerät eingeschaltet war.

- In Holland bekommen Telefonsex-Anbieter pro Anruf-Einheit 22,5 Pfennig, ein Unternehmen offenbarte 1988, daß es jährlich ca. 120 Millionen DM dabei umsetze. Kein Wunder, daß 1987 ca. 30000 Anträge von Telefon-Sex-AnbieterInnen bei der niederländischen Post vorlagen, allerdings konnten nur 2000 "06-Anschlüsse" vergeben werden. Die häufige Anwahl der sogenannten "06-Anschlüsse" hat die holländischen Betriebe bereits dazu veranlaßt, die Anwahl solcher Nummern durch entprechende Programmierung ihrer Telefon- Nebenstellenanlagen zu sperren.

- In Deutschland verklagte eine Frau ihren zahlungsunwilligen Telefon-Sex-Kunden, wurde aber vom Oberlandesgericht Hamm abgewiesen, weil "gegen die guten Sitten verstoße" (OLG Hamm, Aktenzeichen: 1 WS 354/88).

- In Bahrain genügte allein die sanfte, erotische Stimme einer Ansagerin auf Band, die im Rahmen einer Kampagne des Hilton Hotels für französische Produkte Werbung machte, um einen Telefonansturm von tausenden Anrufern auszulösen. Die Regierung von Bahrain kappte die Leitung nach zwei einhalb Tagen, um der großen Telefonanfrage ein Ende zu machen.

 

4. Flurbereinigung und Kanalisierung

Man kann unterstellen, daß infolge einer sich ausbreitenden Terminalisierung (3) auch die Häufigkeit der Netzkontakte steigt. Dabei werden ehemals komplexe Sitationen direkter menschlicher Kommunikation in das Korsett einer technischen Kommunikationsform gepresst. Bei der Gestaltung von BTX-Angeboten wird die Kommunikation auf formale Grundmuster reduziert, die ökonomisch Sinn machen. Diejenige "Kommunikation", die zum Erreichen von ökonomischen Zwecken funktional gestaltet ist kann jedoch zugleich in sozialer Hinsicht eine Verarmung der Kommunikation sein. Bei direkt menschlichen Kontakten finden stets auch nichtfunktionale Begegnungen statt, die quasi nebenbei oder zufällig erfolgen, die ungeplant sind aber dennoch ein wichtiger Bestandteil der Kommunikationskultur darstellen. Gruppentreffen, Tagungen, Schulen, Universitäten, Lebensmittelläden, Kaufhäuser und Kommunale Ämter z.B. sind Kommunikationsorte an denen nicht nur im Sinne der formalen Zweckbestimmung dieser Orte funktionale Kommunikation stattfindet. Nebenbei findet dort mehr statt. Auf Tagungen sind es die Flurgespräche und abendlichen Zusammentreffen, im Lebensmittelladen sind es Gespräche zwischen Nachbarn oder zwischen zufällig zusammentreffenden Personen. Oft genug findet das eigentlich relevante soziale Leben und die entsprechende Kommunikation außerhalb der offiziellen Zweckbestimmung des jeweiligen Kommunikationsortes statt. Die Betriebssoziologie hat diese Erkenntnis bereits insofern aufgegriffen, als sie nun auch "informelle Kommunikation" produktiv im Sinne des Unternehmens nutzen und einer funktionalen Beeinflussung zugänglich machen möchte (4).

Bei der Entwicklung von technischen Kommunikationssystemen in den Alltagssituationen wird von einem verengten Effektiviätsbegriff ausgegangen und es findet eine Reduzierung auf funktionale Notwendigkeiten statt. Die kommunikative Situation, die viele ungeplante Nischen für zufällige, freie Kommunikation läßt wird z.B. bei BTX von ihren nicht-funktionalen Bestandteilen "gereinigt". Die kommunikative Situation "Einkaufengehen" wird bei elektronischen Bestellsystemen im BTX auf die "Kommunikation" zwischen Kunde und Kaufhauscomputer reduziert. Dabei wird die zentrale Funktion des Einkaufens, das Auswählen und Bestellen der Ware erfüllt, die Bezahlung kann ebenfalls durch Mensch-Maschine-"Dialog" erfolgen, so daß der gesamte Einkaufsvorgang ohne Kontakt mit Menschen abgewickelt werden kann, ausgenommen die physische Anlieferung der Ware durch Lieferanten. Für eine sehr eingeschränkte funktionalistische Betrachtungsweise gilt das als ökonomisch optimale Lösung, wenn es gelingt, den Einkaufsakt mit minimalem Zeit- und Energieaufwand durchzuführen. Überschreitet man aber die betriebswirtschaftlichen Denkgrenzen, dann wird die soziale Verarmung der Situation erkennbar. Die Reduzierung auf funktionale Kommunikation läßt kein Platz für die zufällige Begegnung von Körpern, Augenkontakten, Händen, für die körperlich-sinnliche Erfahrung von Räumen, Gerüchen, Licht, Geräuschen usw.. Selbst die bereits funktional durchgeplanten Fußgängerzonen mit ihrer flurbereinigten Architektur sind im Vergleich mit den Bestell-Systemen im Bildschirmtext geradezu noch ein Dschungel sozialer Komplexität.

Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Man kann das vielleicht am Beispiel öffentlicher Treffpunkte erklären. Nimmt man die Plätze und Orte (z.B Marktplätze aber auch Fußgängerzonen), die sozusagen am Rande funktionaler Tätigkeiten des Alltags zu sozialen Treffpunkten geworden sind, so werden diese durch eine Übertragung funktionaler Tätigkeiten auf das elektronische Medium ausgedünnt; die Anzahl der Gelegenheiten wird reduziert, bei denen sich Menschen aufgrund von Alltagserledigungen irgendwo gemeinsam aufhalten. Angenommen z.B. daß sich Telearbeitsplätze ausbreiten, dann entfiele das Zusammentreffen von Menschen bei der Arbeit und damit auch die gesamte "informelle" soziale Kommunikation an diesem Ort.

Bei Videokonferenzen ist nach der Beendigung des Gesprächs jede/r plötzlich wieder für sich allein, es gibt kein Händedruck, kein gemeinsames Kaffetrinken o.ä., kein Flurgespräch nach Abschluß des offiziellen Teils. Ähnlich ist es auch beim Fernunterricht: das was in einer herkömmlichen Unterrichtsklasse stattfindet, ist sehr viel mehr als Informationsvermittlung und Lernen, es finden menschliche Kontakte statt. Im Fernunterricht bleibt nur das Funktionale übrig, die Menschen werden reduziert auf "Lernende". Die Ausdünnung der sozialen Treffpunkte wird vielleicht erst dann als Problem erkannt, wenn umfangreiche Forschungsprogramme dies als "sozialhygienischen" Mangel nachweisen. Als "Gestaltungsmaßnahme" ist dann allerdings zu befürchten, daß eine computergestützte Partnervermittlung mit BTX entwickelt wird, damit die Erfüllung der "Funktion Bevölkerungswachstums" wieder sichergestellt ist (5).

 

Anmerkungen

1) In der BRD wurden in den letzten Jahren allein von der Bundespost schätzungsweise 60 Millionen DM für die Positivdarstellung neuer Telekom-Techniken ausgegeben.

2) "BTX" ist die deutsche Fassung des international gebräuchlicheren Begriffes "Videotext", in Deutschland ist der Begriff "Videotext" allerdings für die von Fernsehsendern verbreiteten Textseiten üblich, die dem normalen Fernsehsignal aufgesattelt werden.

3) Unter "Terminalisierung" der Gesellschaft ist die Ausbreitung von Endgeräten innerhalb von Computernetzen zu verstehen.

4) Dabei wird zwischen "formeller" und "informeller" Betriebsstruktur gesprochen, wobei die informelle Struktur aus den sozialen Gruppen besteht, die sich jenseits der offiziellen Betriebsorganisation herausbilden, also Freundschaften, Feindschaften, Gruppenbildungen, Hierarchien etc.

5) Ein abschreckendes Beispiel für diese Denkweise ist dokumentiert durch das Buch von Böckelmann/Nahr, Eine Planungsstudie für Vermittlugnsdienste im Alltag, Berlin 1981, Vgl. dort z.B. S.181 den Vorschlag, die "Alltagsaktivität: Partnersuche für besondere Gelegenheiten" auf einen computerisierten Vermittlungsdienst zu übertragen.