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Zur Digitalisierungsdiskussion

Das Terminal als Tor zur künstlichen Welt

Zeitschrift aus dem
Adolf-Grimme-Institut
Weiterbildung und Medien
W & M 4/1991

Vorbemerkung zur online-Veröffentlichung 2021

Als dieser Artikel vor 30 Jahren geschrieben wurde, gab es noch kein Internet und keine Handys überall.Die Vorläufertechnologien ISDN und BTX waren die infrastrukturellen Projekte, die ahnen ließen, wie sehr die neuen Techniken die Gesellschaft strukturell durchdringen würden. Da die meisten hier angesprochenen Dinge innerhalb der letzten 30 Jahre bereits Wirklichkeit geworden sind, gleicht dieser Text einem Blick aus der Vergangenheit auf die Gegenwart.

 

Günter J. Schäfer

DAS TERMINAL ALS TOR ZUR KÜNSTLICHEN WELT 

UNIVERSELLE INFORMATIONS- UND KOMMUNIKATIONSNETZE

Bisher gilt Telefonieren als "Individualkommunikation", Zeitung lesen hingegen als "Massenkommunikation". Wenn (wie bei BTX) Zeitungstexte über das Telefonnetz aus einer Datenbank abgerufen werden können, wird diese elektronische Zeitung zwar nur in einem einzigen Exemplar produziert, kann aber von sehr vielen Menschen gleichzeitig gelesen werden. Die Bildschirmzeitung wäre die elektronische Form des Massenkommunikationsmittels "Zeitung". Die individuelle Auswahl findet bisher durch die Wahl der Zeitung oder Zeitschrift statt. Bei der Fernabfrage von einer Textdatenbank können die LeserInnen nun aber auch gezielt aus unterschiedlichen elektronischen Zeitungen einzelne Artikel abfragen und sich eine "Zeitung" individuell nach Gusto zusammensetzen.

Im digitalisierten Telefonnetz (ISDN) können nicht nur Texte, sondern auch Töne und Bilder (eingeschränkt auch bewegte Bilder) über die bereits vorhanden Telefonkabel übertragen werden. In einem zukünftigen Glasfaser-Telefonnetz könnten sogar Filme individuell aus Filmdatenbanken ausgewählt und über eine Datenleitung auf den heimischen Bildschirm geholt werden. In den selben Netzen kann eine Person gezielt eine andere anwählen und "Individualkommunikation" betreiben, z.B. einen Videofilm überspielen oder über Bildtelefon kommunizieren.

Ein universelles Informations- und Kommunikationsnetz (IuK-Netz) auf digitaler Basis kann prinzipiell nur computerverständliche Signale übertragen. Texte, Töne, Bilder und Filme müssen daher in Daten umgewandelt, also unterschiedslos in gleichartige computerverständliche Signale zerlegt werden. Sie lassen sich dann per Kabel, Richtfunk oder Satellit digital übertragen aber auch wie andere Daten in Computern speichern und verarbeiten.

 

ZENSUR, FÄLSCHUNG UND ZUGRIFFSBESCHRÄNKUNGEN

Bilder, Texte und Töne werden bei der Digitalisierung in kleinste Informationseinheiten aufgelöst und diese Bauelemente können am Computer auch in ihrer Zusammensetzung verändert oder einzeln gelöscht werden; informationelle Produkte lassen sich im digitalisierten Zustand wie knetbare Masse bearbeiten. Ein Textverarbeitungsprogramm erlaubt z.B. die Veränderung eines Textes dadurch, daß per Knopfdruck ein Wort im gesamten Text durch ein anderes ersetzt wird, Textteile lassen sich verschieben wie Spielkarten auf einem Tisch, Größe und Typ der Schrift läßt sich am geschriebenen Text nachträglich verändern, beim Layout auf dem Bildschirm schließlich kann die gesamte Textgestalt im digitalen Zustand umgemodelt werden.

Ähnlich "knetbar" sind digitale Bilder und Töne. Information macht sich von den materiellen Trägern herkömmlicher Signaldarstellung unabhängig, wird verflüssigt. Metamorphosen per Knopfdruck erzeugen ein neues Orginal, die neue Form läßt nicht die alte erkennen.

Die Inhalte eines gedruckten Buches, eines gemalten Bildes, eines Photos sind dagegen relativ unveränderlich. Für Manipulationen, wie sie durch Photomontagen oder Schnitte bei Filmen und Tonaufnahmen bekannt sind, werden bei digitalisierter Verarbeitung die Möglichkeiten erheblich ausgeweitet. Ist ein Text, ein Bild oder ein Ton erst einmal digitalisiert, lassen sie sich mit einer bisher nie dagewesenen Leichtigkeit verändern bzw. verfälschen. Wir sind m.E. bereits heute durch die digitalisierte Bildverarbeitung an einem Punkt angelangt, wo es sinnvoll scheint, in einem Manifest zur Wahrheit in der Bildberichterstattung aufzurufen.

Wenn digitale Übertragungs- und Vermittlungsnetze (Computernetze) zu universellen Medienträgern werden, bietet sich die Möglichkeit, systematische Zugriffsbeschränkungen zu veranlassen. Durch Programmierung in Datenbank- oder Vermittlungsrechnern könnte ein einzelnes Endgerät oder eine Gruppe von Endgeräten vom Empfang bestimmter Medien für einen definierten Zeitraum ausgeschlossen werden. Ebenso kann die Beschränkung auch das Telefonieren, das Absenden von elektronischen Briefen im Mailboxsystem, BTX oder Telefaxen betreffen. In diese Richtung weisen folgende beispielhafte Erfahrungen: a) Mithilfe des Vermittlungscomputers in Telefonnebenstellenanlagen kann heutzutage der Nummernkreis eingeschränkt werden, der von einem bestimmten Benutzer angewählt werden darf, b) gibt es Schubladenvorschriften bei der Telekom für die systematische Abschaltung von TelefonteilnehmerInnen im Krisenfall, c) der Abruf der BTX-Informationen des Chaos-Computer-Club an öffentlichen BTX-Terminals wurde zeitweise gesperrt, weil sich die Post über deren Kapriolen geärgert hatte.

Wenn die Terminalbenutzung mit einer maschinell lesbaren Identitätskarte gekoppelt wird, was z.B. im öffentlichen Netz bei Telefonkarten mit online-Abbuchung der Gebühren schon passiert, dann kann die Zugriffsbeschränkung so eingerichtet werden, daß nur eine bestimmte Person an einem bestimmten Terminal oder an allen Terminals automatisch abgewiesen wird.

 

KÜNSTLICHE REALITÄT

Instrumente zur Digitalisierung stellen gleichzeitig die technischen Mittel für die künstliche Erzeugung von Bildern, Tönen und Filmen bereit. Die Nabelschnur zur abgebildeten Realität wird endgültig zerschnitten, wenn es gar kein Abbild mehr gibt, sondern das Bild vollständig künstlich erzeugt, quasi nach Programmierbefehlen "errechnet" wurde.

Der Unterschied zwischen Abbildungen und computererzeugten Bildern bzw. Filmen (Computeranimationen) läßt sich gegenwärtig noch daran erkennen, daß computererzeugte Bilder noch kleine Ecken und Kanten haben und bei Computeranimationen fallen die ruckartigen Bewegungen auf. Ziel bei der Weiterentwicklung der digitalen Bildverarbeitung und Computeranimation ist es, Photoqualität und fließende Bewegungen zu erreichen; es ist nur eine Frage der Zeit bis Rechnerleistung und Software soweit entwickelt sind, daß dies gelingt. So liegt es bereits im Bereich des Denkbaren, daß der Nachrichtensprecher von einer Computeranimation ersetzt wird, die Mundbewegungen zu ebenfalls künstlich erzeugten Sprachlauten modelliert und im laufenden Bild synchron hinzugefügt werden. Können wir bei dieser Entwicklung vielleicht irgendwann nicht mehr unterscheiden, ob irgendeine PolitikerIn tatsächlich mit der Kamera aufgenommen wurde oder nur eine Computersimulation ist?

 

INTERAKTION MIT MODELLWELTEN

Mittels Computerprogrammen können künstliche Bilder und Töne nicht nur das Abbilden der Welt ersetzen; mehr noch: Wir können mit dieser künstlichen Welt interagieren. Im Bereich Sprachverarbeitung können nicht nur Texte vom Computer in Tonsprache verwandelt werden, sondern "intelligente" Computerprogramme ermöglichen den selbständigen Dialog des Programmes mit einem menschlichen Partner. Der natürlichsprachliche Dialog mit dem Computerprogramm ist keine Sensation mehr, lediglich die dazu benötigte Rechnerkapazität beschränkt noch dessen Anwendungen.

Beispiel für die Interaktionsmöglichkeiten zwischen einer künstlichen Modellwelt und dem "Endgerätebenutzer" ist der Eingriff mit einem Sensorhandschuh in die künstliche Bilderwelt: man sieht auf einem Bildschirm oder in einer Brille z.B. ein Büro, die eigenen Arm- und Handbewegungen werden in Bewegungen eines künstlichen Arms übertragen, der sich in der künstlichen Welt befindet, so daß ich einen Aktenschrank mit diesem Kunstarm öffnen, eine Akte herausholen, aufschlagen und dann auf dem Bildschirm lesen kann. Verbreitete Interaktionsformen mit Modellwelten sind computergesteuerte Videospiele und Anwendungen in der Architektur und Raumplanung, bei denen jeder gewünschte Spaziergang durch ein noch nicht gebautes Gebäude simuliert werden kann.

Wenn in einem universellen IuK-Netz Computer und Datenbanken angeschlossen sind, die "intelligente" Interaktion mit menschlichen Dialogpartnern ermöglichen, dann wird das Terminal für den einzelnen Engerätebenutzer zum Eingangstor in eine phantastische, informationelle Welt zu deren Teil er wird und in der er sich verlieren kann, wenn er sich auf den "Mensch-Maschine-Dialog" einläßt.

In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, daß das Thema "Wirklichkeitswechsel", d.h. Wechsel zwischen unmittelbarer und medialer Wirklichkeit in letzter Zeit häufig literarisch und filmisch aufgegriffen wird (Unendliche Geschichte, Purple Rose of Cairo). Die philosophische Frage "Was ist wirklich?" erhält durch die Erzeugung von Kunstwelten praktische Alltagsrelevanz.

ÜBERWACHUNG UND KONTROLLE IM UNIVERSALNETZ

Wenn im Kommunikationsrechner spezielle Eigenschaften der NutzerInnen bekannt sind, kann sich die computergesteuerte Interaktion auch automatisch auf die speziellen Eigenschaften dieser Personen einstellen. Von einigen Anwendungen "intelligenter" Programme im Bürobereich ist bekannt, daß sie sowohl die Such- und Dialogstrategie als auch die typischen Fehler der BenutzerInnen speichern und analysieren, um daraus ein Simulationsmodell ihres Benutzers zu konstruieren. Kombiniert mit psychologisch intendierten Analyseprogrammen käme dies einer erschreckend weit gehenden Persönlichkeitskontrolle gleich.

Aber nicht erst ab diesem Punkt könnte das universelle Informations- und Kommunikationsnetz auch zum Überwachungssystem werden. Die Benutzung von Terminals für eine zunehmende Zahl von Alltagsaktivitäten erzeugt in computerisierten Systemen beträchtliche Mengen von personenbezogenen Daten über Zeitpunkt und Art der Aktivitäten im Netz. Sowohl die Auswahl beim Medienkonsum als auch die Anwahl von Partnern in der Individualkommunikation laufen in einem Universalnetz über Vermittlungsrechner, d.h. sämtliche Aktivitäten hinterlassen eine Datenspur. Die Auswahl von Fernseh- und Hörfunkprogrammes würde genauso registrierbar wie heute schon die Telefonverbindungsdaten.

Die automatische Erfassung von personenbezogenen Alltagsdaten wird durch die Einführung von maschinenlesbaren Identitätskarten bei der Terminalbenutzung erleichtert. Sie erlauben die personenbezogenen Nutzungsdaten unabhängig davon zu erfassen, ob das wohnungseigene Terminal, ein fremdes oder z.B. ein öffentliches Terminal benutzt wird.

 

ELEKTRONISCHE ÖFFENTLICHKEIT UND KOMMUNIKATIONSORTE IM NIRGENDWO

Schon das Telefonnetz legt einen virtuellen Kommunikationsort über die Welt, der überall und nirgends existiert. Wenn Personen, die sich an verschiedenen Orten befinden, gleichzeitig miteinander sprechen oder Texte austauschen können, wie bei Telefonkonferenzschaltungen, bei Videokonferenzen oder den "schwarzen Brettern" in Mailboxsystemen bzw. BTX, dann befindet sich der gemeinsame Kommunikationsort im Nirgendwo der Übertragungsnetze. Wer im Mailboxsystem eine Text-Nachricht "ans Schwarze Brett hängt", macht diese Nachricht im elektronischen System öffentlich. Andere, die darauf reagieren, indem sie z.B. einen Kommentar dazu schicken, schaffen eine öffentliche Auseinandersetzung, die viele gleichzeitig verfolgen und in die sie mit eigenen Beiträgen eingreifen können. Gleichzeitig können die TeilnehmerInnen gezielt Kontakt miteinander aufnehmen, wenn sie nicht (wie üblich) anonym bleiben. Eine Diskussion mit zahlreichen, räumlich voneinander unabhängigen TeilnehmerInnen, das ist eine absolut neue Form von Öffentlichkeit. Praktisch untersucht werden kann diese Form gegenwärtig anhand des französischen BTX-Systems "Teletel", wo die Leute des Nachts im Netz "spazieren gehen" und Unterhaltung suchen.

Die Problematik dieses Ersatzes für direkte menschliche Kommunikation besteht - sehr knapp formuliert - in der Reduzierung von Kommunikationskultur auf das, "was durch die Leitung paßt". Kontextabhängigkeit, Körperlichkeit, Sinnlichkeit in der Kommunikation kommen zu kurz, bzw. stoßen an prinzipielle Grenzen des Mediums: Menschliche Kommunikation ist mehr als Datenaustausch.