Goettinger Stadtinfo
 Texte und Bilder
© Impressum

gbe.JPG (10217 Byte)

Göttinger Betriebsexpress

> GBE - Leitseite in goest

Nr. 188 Mittwoch, den 14. April 2010

 

Rechtzeitig zum 1. Mai 2010 kam die neueste Ausgabe des Göttinger Betriebsexpress - eine unabhängige, basisnahe und gewerkschaftskritische Zeitung mit Informationen aus Göttinger Betrieben.
Die GBE- Originalartikel sind in der Papierausgabe zu finden, z.B. im Buchladen Rote Straße oder
auf der >>GBE-Homepage im pdf-Format . Direkt erreichbar ist auch die >>Nr. 188 als pdf

Inhalt:

Tarifrunde 2010
Uniklinikum
Hartz IV
Sartorius
Mahr
Colwell
Transfergesellschaften
Wirtschaftskrise in Athen

 

Tarifrunde 2010

Panther oder Bettvorleger?

Die diesjährige Tarifrunde wurde von der IG Metall und ver.di eröffnet. Damit dürften die Weichen für den Rest des Jahres weitgehend gestellt sein, denn das sind die beiden größten deutschen Gewerkschaften. Jede Tarifrunde ist irgendwie ungewöhnlich, weil anders als die vorhergehende. Aber das Krisenjahr 2009 hat natürlich besonders lange Schatten auf die Verhandlungen geworfen. Die Presse rieb sich verwundert die Augen, warum die beiden großen Gewerkschaften mit so unterschiedlichen Forderungen in den Ring steigen: ver.di forderte 5% mehr Lohn und zusätzliche Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen im Öffentlichen Dienst, die IG Metall dagegen hat überhaupt keine Lohnforderung aufgestellt, sondern ist mit einem Beschäftigungssicherungspaket angetreten.

Realitäten

Entsprechend waren dann die Reaktionen in der Presse: hie die 'gute' IG Metall, die "Realität anerkennt", dort die böse ver.di mit ihrer "Taktik der Maßlosigkeit" (Zitate beispielhaft aus der Rheinischen Post). So als wäre nicht jedem klar, dass in den beiden Branchen völlig unterschiedliche Voraussetzungen herrschen. Dass es der IG Metall an Kampfkraft mangelte angesichts von (in der Spitze) 1 Million Kurzarbeitern in 2009, konnte jeder sehen. Im Südwesten war zu Beginn der Verhandlungen noch jede dritte MetallerIn in Kurzarbeit. Deshalb haben sich die Mehrzahl der Mitglieder in der Vorfelddiskussion für Arbeitsplatz sichernde Elemente in den Tarifverhandlungen ausgesprochen.

Schnauze voll

Bei ver.di dagegen hatten die Mitglieder die Schnauze voll, nachdem ihre Löhne ein Jahrzehnt lang der Preisentwicklung hinterher gehoppelt sind. Auch wenn es im Öffentlichen Dienst in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen stetigen Jobverlust gegeben hat, ist doch ein Arbeitsplatzverlust wegen der Wirtschaftskrise deutlich unwahrscheinlicher als in der Metallbranche, die mit einem 30%igen Umsatzrückgang kämpft – oder hat irgendjemand davon gehört, dass 2009 30% der Kindergärten, Krankenhäuser, Buslinien etc. geschlossen wurden? Die KollegInnen waren kampfbereit und haben sich an den ersten Warnstreiks entsprechend beteiligt. Und die befürchtete Aufregung in der Öffentlichkeit angesichts der 'maßlosen' Forderungen blieb aus. Viele Menschen, die als Eltern ihre Kinderbetreuung kurzfristig privat organisieren mussten oder nicht mit dem Bus zur Arbeit kamen, sympathisierten mit den Aktionen, die letztendlich ja auch mehr Geld für sie selbst bedeuten können.

Ergebnis im Öffentlichen Dienst:

Lohnerhöhung: 2,3% in drei Stufen mit 26 Monaten Laufzeit, im Jahresschnitt: 1,06%Einmalzahlung: 240 Euro

Leistungsentgeltanteil wird in vier Schritten von 1% auf 2% erhöht (Achtung - das gibt es nicht oben drauf!)

Altersteilzeit:: Bis 2,5% der KollegInnen können ab 60 Jahre in Altersteilzeit gehen mit 20% Aufzahlung

Auszubildende: Übernahme für 1 Jahr "bei Bedarf"

Überrascht hat dann das Ergebnis der Verhandlungen für den Öffentlichen Dienst. Obwohl ver.di recht zügig Warnstreiks eingeleitet hat und dann die Verhandlungen für gescheitert erklärte, hat sie das Ergebnis der Schlichtung sofort angenommen, obwohl die 1,06% aufs Jahr gerechnet vermutlich nicht einmal für eine Reallohnerhöhung reichen. Und die anderen Ergebnisse sind auch nicht gerade berückend: einen höheren Leistungsentgeltanteil will eigentlich niemand außer der Arbeitgeberseite und die Übernahme der Auszubildenden "bei Bedarf" ist nicht mehr und nicht weniger als schon immer gängige Praxis war. Die Gewerkschaftsspitze war sich offensichtlich in der konkreten Streitsituation ihrer Sache nicht mehr so sicher.

Für die Zukunft lernen

Größter Unterschied der Verhandlungen war, dass die Enttäuschung in der Metallindustrie gar nicht groß sein konnte, weil ja schon gar keine Lohnforderung gestellt wurde. Dass die 2,7% mehr aussehen als bei ver.di ist eher ein optisches Problem – die 1,4% im Jahresschnitt könnten mit Glück aber reichen, um die Inflation auszugleichen. Wie viel das Beschäftigungssicherungspaket tatsächlich wert ist, wird sich vermutlich erst zum Jahresende herausstellen, wenn bei vielen Metallbetrieben die konjunkturelle Kurzarbeit ausläuft. Dass die IG Metall sich um das Thema Arbeitszeitabsenkung erst in so einer schwachen Ausgangslage kümmert, ist wohl der größte Fehler dieses Abschlusses. Es wird sich zeigen, ob die Organisation in Zukunft daraus lernt. Besonders besorgt sollten die Metaller angesichts der vielen befristet Beschäftigten und der Leiharbeiter sein, die gleich zu Beginn der Krise ihre Arbeitsplätze verloren haben. Hier gab es für Betriebsräte und Gewerkschaft keine Möglichkeit einzugreifen. Wenn es nicht gelingt, das vorhandene Arbeitsvolumen durch eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit dauerhaft auf mehr KollegInnen zu verteilen und die Beschäftigten in ungesicherten Arbeitsverhältnissen (Leiharbeit, Befristung) zu organisieren und mehr Rechte zu erkämpfen, dann wird die Bedeutung und Kampfkraft der Gewerkschaft deutlich sinken.

Mitmachen

In beiden Gewerkschaften wurden die Abschlüsse gespalten aufgenommen, wobei die Befürworter dieser moderaten Abschlüsse mit Schwerpunkt auf der Arbeitsplatzsicherung sicher in der Mehrzahl sind. Aber in beiden Gewerkschaften gibt es Magengrimmen angesichts von Verhandlungen, die letztlich allein vom Vorstand ohne wesentliche Beteiligung der Basis geführt wurden. Angesichts der laufenden Diskussionen über die zukünftige Organisationsstruktur der großen Gewerkschaften kann dies sicher nicht als positives Beispiel gelten – mal ganz unabhängig vom Ergebnis. Die Mitglieder der großen Gewerkschaften sollten sich fragen, wie sie sich effektiver in diesen Kernbereich der Gewerkschaftsarbeit einbringen wollen.

Zum Anfang

 

Universitätsklinikum Göttingen

Zur Kasse, bitte!

Zur Erinnerung: Einerseits hatte die Uniklinik das Geschäftsjahr 2008 mit einem ausgeglichenen Betriebsergebnis abgeschlossen, wofür sich der Klinik-Vorstand ausführlich mit Eigenlob bedachte. Andererseits wird vom gleichen Vorstand immer wieder eine angebliche wirtschaftliche Notlage des Klinikums beschworen: trotz der "schwarzen Null" des Jahres 2008 bleibt noch ein Defizit in Höhe von etwa 50 Millionen Euro abzutragen, das sich in den Vorjahren angesammelt hatte. Den Beifall für die "schwarze Null" nahm der Vorstand gerne entgegen, obwohl er daran durchaus unschuldig gewesen war (siehe vorige Ausgabe des GBE). Der Abbau des alten Defizits dagegen soll weiterhin der Belegschaft aufgebürdet werden. Dass in den letzten zwei Jahren die Belegschaft um ca. 10% reduziert wurde (bei gleichzeitig steigenden Patientenzahlen), reichte der Klinikleitung nicht aus, sondern sie will auch ans Portemonnaie der Beschäftigten.

Personal soll Schuldendienst leisten

Im Herbst 2009 verlangte der Vorstand die Absenkung der untersten vier Lohngruppen in einem Volumen von 15% sowie eine Kürzung der Zahlungen an die betriebliche Rentenversicherung (VBL) um 50% und drohte andernfalls mit einer umfangreichen Privatisierung von Betriebsteilen, von der bis zu 700 KollegInnen betroffen sein sollten.

Zunächst gab es für diesen Vorstoß eine für die Klinikleitung wohl unerwartete Abfuhr: ver.di (als mitgliederstärkste Gewerkschaft der Hauptverhandlungspartner für den Arbeitgeber) lehnte die Absenkung der untersten Lohngruppen ab und war allenfalls bereit, über die Absenkung der VBL-Beiträge zu verhandeln. Dies aber geknüpft an die Bedingung, dass als Gegenleistung die in den Service-GmbHs Beschäftigten ins Klinikum überführt werden (und damit in den Geltungsbereich des Tarifvertrages der Länder/TV-L). Weitere Bedingung war, dass neue Outsourcing-Maßnahmen zu unterlassen seien.

Immerhin also ein Nein zur Lohngruppenabsenkung, aber in Anbetracht der stetig verschlechterten Arbeitsbedingungen für die KollegInnen dennoch ein eher verhaltener, vom Geist der "Sozialpartnerschaft" getragener Kompromissvorschlag, der sich bemühte, die widerstreitenden Interessen der Belegschaft und des Unternehmens auszugleichen.

Wie aber Sozialpartnerschaft und Co-Management belohnt werden, erfuhren die KollegInnen dann auf einer Betriebsversammlung in diesem Februar, auf der der Vorstand seinen "Generalentwicklungsplan Bau" vorstellte, der vorsieht, nunmehr beide Bettenhäuser abzureißen (bisher nur für Bettenhaus 1 geplant) und statt dessen einen neuen Bettenhausschlauch plus OP-Trakt in Ost-West-Richtung zu errichten; Kostenpunkt: mehrere 100 Millionen. Eine Menge Holz für ein angeblich wirtschaftlich notleidendes Unternehmen, aber, so Vorstandsmitglied Frau Schulte, man gehe davon aus, dass das Land Niedersachsen 90 Prozent der Kosten übernehme – auch wenn es bis jetzt eine entsprechende Zusage nur für den ersten Bauabschnitt gebe – und überdies befinde sich der Vorstand ja in Gesprächen mit ver.di bezüglich einer Absenkung der VBL-Beiträge....

Zwar können wir die langfristige Rentabilität dieser Baumaßnahme momentan nicht einschätzen. Dass aber mitten während der vom Vorstand wegen angeblicher wirtschaftlicher Notlage geforderten Tarifverhandlungen plötzlich satt gestiegene Neubaukosten präsentiert werden, ist nur als ein kräftiger Schlag ins Gesicht der Belegschaft zu verstehen, gegen den deutlicher Widerstand nötig wäre. Ca. 15 Millionen Euro beträgt der Klinik-Anteil für den ersten Bauabschnitt, und ca. 20 Millionen Euro bringt eine dreijährige VBL-Absenkung dem Arbeitgeber ein: auch wenn das Geld nicht einfach direkt zwischen zwei Kostenstellen verschoben wird, so drängt sich doch ein Zusammenhang zwischen (erweitertem) Bauvorhaben und Lohnabsenkung auf.

Zähe Verhandlungen

Die Tarifverhandlungen jedenfalls liefen weiter, wobei sich der Vorstand über Monate keinen Millimeter in seinen Vorstellungen bewegte. Dass auf ArbeitnehmerInnenseite dabei die mit verhandelnde, dem Beamtenbund nahe stehende Gewerkschaft GeNi nicht durch aktive Vertretung von Beschäftigteninteressen auffiel, sondern sich eher in ihrem ach so guten Verhältnis mit der Arbeitgeberseite gefiel, ist zwar nichts Neues, sondern ein eher altbekanntes Ärgernis für die KollegInnen. Aber warum blieb ver.di so leise, unauffällig und defensiv, anstatt in den Monaten des Verhandlungsstillstands zu versuchen, die von den drastischen Maßnahmen bedrohten Beschäftigten zu mobilisieren und Druck auf die Arbeitgeberseite auszuüben?

Erst in der zweiten Märzhälfte kamen von ver.di erste Signale in Richtung Warnstreik, mittels einer Beschäftigtenbefragung ("Bist Du bereit, die Standards an der Klinik mit deiner Teilnahme an einem Warnstreik zu verteidigen?"): Innerhalb nur einer Woche äußerten rund 600 KollegInnen ihre Streikbereitschaft – und die Hälfte davon sind keine ver.di-Mitglieder.

Ob ver.di Druck auf die Klinikleitung hätte aufbauen können, werden wir wohl nun nicht mehr erfahren, denn (eher unerwartet) legte die Klinikleitung eine Woche später in der 4. Verhandlungsrunde ihr erstes Angebot vor, welches die ver.di-Tarifkommission umgehend zur Annahme empfahl: Im Gegenzug für die dreijährige Halbierung der VBL-Beiträge ist der Vorstand bereit, auf Ausgründungen und Privatisierungen für sechs Jahre und auf betriebsbedingte Kündigungen für bis zu zwölf Jahre zu verzichten; die Rückführung der bereits ausgegründeten Betriebsteile insgesamt wird zwar weiter abgelehnt, aber er ist bereit, die 2009 ausgegründeten Beschäftigten der GastroGmbH wieder zur Uniklinik zurückzuführen.

Zwar ist noch nicht Alles gelaufen, denn die Vertragsentwürfe sehen vor, dass der ausgehandelte Tarifvertrag erst in Kraft tritt, wenn alle im Betrieb vertretenen Gewerkschaften einer der VBL-Absenkung entsprechenden Regelung zugestimmt haben. Ob dies der Marburger Bund, der nun erst mit einem halben Jahr Verspätung in die Verhandlungen mit dem Vorstand einsteigt, tun wird, ist offen. Die GeNi jedenfalls bejubelte das Arbeitgeberangebot nach allen Regeln der Kunst und bezeichnet es als großen Verhandlungserfolg. (Bemerkung am Rande: Eine Reihe von Kolleg/inn/en wechselte in den letzten zwölf Monaten zur GeNi, wegen Unzufriedenheit mit mangelnder gewerkschaftlicher Unterstützung durch ver.di. Wieso sie ihre Hoffnungen stattdessen in eine Gewerkschaft mit arbeitgeberfreundlichem Schmusekurs setzten, erschloss sich uns nicht. Ihre Erwartungen an die GeNi haben sich nun jedenfalls sehr schnell zerschlagen.)

Gemischte Gefühle

Dass aber die ver.di-Tarifkommission sogleich die Annahme dieses ersten Arbeitgeber-Angebotes seit Verhandlungsbeginn empfahl, verwundert auf den ersten Blick, denn das aufgestellte Ziel, die ausgegründeten Bereiche wieder in den Geltungsbereich des TV-L zurückzuführen, scheint verfehlt. Den Einwand, immerhin würden die Beschäftigten der GastroGmbH in die UMG zurückgeführt, können wir hier nicht gelten lassen, denn tatsächlich waren diese, wie bereits im GBE berichtet, trotz Ausgründung auf dem Papier weiter vom Klinikum nach TV-L bezahlt worden, da die faktische Überführung in die GastroGmbH eine drastische Strafzahlung der VBL nach sich gezogen hätte. In diesem Punkt wurden also dem Vorstand keine Zugeständnisse abgerungen, sondern eher Frau Schulte ein Rückzug ohne Gesichtsverlust ermöglicht.

Der Ausschluss von Outsourcing-Maßnahmen für sechs Jahre und von betriebsbedingten Kündigungen für bis zu zwölf Jahre mag zunächst gut aussehen; es stellt sich allerdings die Frage: wem nützt es? Sicher nicht den ca. 40 Prozent Beschäftigten, die sich von Befristung zu Befristung hangeln – die muss der Arbeitgeber nicht kündigen, um sie in eine Service-GmbH zu überführen, sondern muss nur warten, bis die jeweiligen Arbeitsverträge (mal wieder) auslaufen. Umgekehrt genießen die langjährig Beschäftigten, die ebenfalls einen großen Anteil der Belegschaft ausmachen, einen relativ umfassenden Kündigungsschutz gemäß §34.1 TV-L. Profitieren würde von diesen Regelungen also nur die kleine Minderheit derjenigen, die zwar unbefristete Arbeitsverträge haben, aber noch nicht lange genug im Betrieb sind, um die Voraussetzungen für die Schutzvorschriften des §34.1 zu erfüllen.

Noch fragwürdiger wird es bei genauerer Betrachtung dieser Regelungen im Vertragstext, denn dieser nimmt Maßnahmen, "bei denen keine Folgewirkungen auf die vorhandenen Beschäftigten entstehen", explizit vom Outsourcing-Verbot aus – es bleibt dem Vorstand also unbenommen, das System der Service-GmbHs auszubauen und Beschäftigte, deren Vertrag ausläuft, danach in einer der GmbHs anzustellen. (Eine Anekdote am Rande: auch im Uniklinikum Schleswig-Holstein hatten Frau Schulte und ver.di seinerzeit einen Deal "Lohnverzicht gegen Outsourcing-Verbot" gemacht; laut ver.di-Infodienst Krankenhäuser fühlt sich der Vorstand des UKSH daran aber nicht gebunden, sondern plant die Überführung "leistungsgeminderter Beschäftigter" in eine Service-GmbH; Begründung: es handele sich nicht um eine "materielle Ausgründung".)

Und auch das Verbot betriebsbedingter Kündigungen hat es in sich – der Tarifvertrag (TV) sieht nämlich ein definitives Kündigungsverbot nur für die Laufzeit von drei Jahren vor. Zwar wird für diese Regelung im TV eine Nachwirkung von weiteren neun Jahren festgeschrieben; diese käme aber nur zum Greifen, wenn nach Auslaufen des TV in 2016 keine neue tarifliche Regelung erfolgt. Tatsächlich haben aber die Vertragsparteien bereits vereinbart, dass vor dem Auslaufen des TV neu verhandelt wird: nämlich zum Ende der für 3 Jahre vereinbarten 50%igen VBL-Kürzung...

Andererseits scheint aber mit diesem Ergebnis immerhin die Absenkung der unteren Lohngruppen nach §15.3 TV-L vom Tisch? Jein: denn eine entsprechende Klausel fehlt im Tarifvertrag; gleichzeitig wird im Vertrag die Anwendung des TV-L ohne Einschränkungen, also inklusive Lohnabsenkungsklausel, vereinbart. Zur Erinnerung: der TV-L wurde 2006 zwischen ver.di/GeNi und der Tarifgemeinschaft der Länder abgeschlossen; die Uniklinik ist als Stiftung zwar nicht Mitglied in der TdL, aber via Nds. Hochschulgesetz und Stiftungsverordnung zur Anwendung des TV-L verpflichtet; für die Gewerkschaften ergaben sich daraus aber keinerlei Verpflichtungen.

Was übrigens auch bedeutet, dass ver.di sich mit der jetzt akzeptierten Tarifeinigung die bisher nicht geltende Friedenspflicht ans Bein bindet.

Der Dritte Weg

Wie wir es auch drehen: es gelingt uns nicht, einen ausreichenden "Gegenwert" zur 20 Mio. Euro schweren VBL-Senkung zu erkennen. Letztlich ist dies tatsächlich doch ein Absenkungsvertrag, es wird erstmals die VBL angetastet, und das auf Grundlage des selbst mit ausgehandelten Tarifabschlusses aus 2006. Unter Anderem diese Geschichte hat in den Folgejahren viele pfiffige und kampfbereite Köpfe vertrieben. Wenn ver.di heute auf schlechte Mobilisierbarkeit der Belegschaft verweist, so sind es hier leider teilweise auch hausgemachte Probleme. Die Frage muss doch dann erst recht sein: wie lässt sich Mobilisierung (wieder) herstellen in schwierigen Zeiten? Zwar können auch wir an dieser Stelle keine Lösung aus dem Hut zaubern. Aber wie schon im Artikel zur Tarifrunde 2010 beschrieben überrascht uns auch hier beim Klinikum, dass ver.di so schnell dem Arbeitgeberangebot zustimmt. Gab es wirklich keine andere Handlungsoption, als die VBL-Absenkung zu diesen Bedingungen sofort zu akzeptieren? Statt einer Ablehnung mit im Zweifel aktuell nicht durchsetzbaren höheren Gegenforderungen wäre durchaus ein dritter Weg denkbar gewesen: nämlich gar nicht reagieren und den Vorschlag der Arbeitgeberseite mit Nichtachtung strafen. Dann wäre der vorige Status Quo unverändert geblieben. Zugegeben: die Arbeitgeberdrohung weiterer Privatisierung würde dann fort bestehen. Ob, wann und welche Bereiche der Klinikvorstand aber tatsächlich ausgliedern würde, wäre abzuwarten, und im konkreten Fall könnte ver.di den Widerstand der Beschäftigten gegen konkrete Arbeitgebermaßnahmen organisieren. Diese "dritte Option" erscheint uns als akzeptable Mischung zwischen zu zaghaft und zu forsch, scheint aber von Anfang an gar nicht als strategische Überlegung im Spiel gewesen zu sein.

In der Vergangenheit ist jedenfalls deutlich geworden, dass die Existenz von Öffnungsklauseln, wie sie der TV-L enthält, erst recht die Begehrlichkeiten des Arbeitgebers wecken. Wenn nun diesen Begehrlichkeiten ohne weiteres nachgegeben wird, ist absehbar, dass sehr bald die Forderung nach einem Nachschlag hinterher kommen wird, um sich statt Abbau des Defizits den Neubau durch die Belegschaft finanzieren zu lassen, dessen Kosten in keinem Verhältnis stehen zu den zu erwartenden Einsparungen.

Denn selbst, wenn die wackelige Kalkulation des Vorstandes aufgehen sollte – woher sollte ein Betrieb, der es seit Jahren nicht fertigbringt, ein Defizit von 50 Millionen abzubauen, die notwendigen Neubau-Millionen herzaubern? Und was ist da naheliegender, als erneut die Beschäftigten zur Kasse zu bitten, wenn das schon einmal gut hingehauen hat?

Zum Anfang

 

Neues von der Hartz-IV-Front:

Verfassungswidrig oder nicht?

Seit dem 1. Januar 2005, als das Arbeitslosengeld II (im Volksmunde Hartz IV genannt), die beiden Leistungen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe in sich vereinigte, gibt es Probleme damit, Widersprüche und Klagen zuhauf.

Einige KlägerInnen hatten es nun im letzten Jahre bis vor das Bundesverfassungsgericht geschafft. Ihre Klagen betrafen im Wesentlichen die Höhe der monatlichen Regelleistungssätze für Kinder und Jugendliche. Der Regelleistungssatz für Erwachsene beträgt momentan 359,00 Euro für alleinstehende Erwachsene, jeweils 323,00 Euro pro Kopf für Eheleute und Paare. Von diesem Regelleistungssatz ist das ganze Leben außer allen Kosten der Unterkunft zu bestreiten, die extra berechnet und ausbezahlt werden.

Für Kinder liegt nun dieser Satz niedriger, nach Lebensjahren gestaffelt. So bekommen Kinder bis zum vollendeten 6ten Lebensjahr nur 60 Prozent des Regelsatzes (215,00 Euro), bis zum 14ten Lebensjahr 70 Prozent (251,00 Euro), bis zum 25ten Lebensjahr 80 Prozent (287,00 Euro).

In letzter Zeit wurde der Protest gegen diese Staffelung immer lauter, denn Kinder und Jugendliche haben eigentlich ja einen mindestens genau so hohen Bedarf wie Erwachsene. Sie wachsen immer wieder aus ihrer Kleidung und ihren Schuhen heraus, sie essen nicht weniger als Erwachsene usw. Und vor allem wurde mehr und mehr klar, dass beim Erheben und Errechnen dieses Regelleistungssatzes überhaupt nichts für Bildung eingesetzt worden war!

Auch deshalb schafften es also etliche KlägerInnen bis vor das Bundesverfassungsgericht.

Dort gab dann der für die Bundesregierung auftretende Jurist, der begründen sollte, warum das alles so in Ordnung sei und dass die Erhebung ebenfalls richtig sei, so ein klägliches Bild ab, dass das Gericht entschied, auch die Regelsätze für Erwachsene mit zu überprüfen. Ebenfalls nahm es eine Überprüfung der Erhebungsmethoden sowie der Bindung einer Erhöhung der Regelleistungssätze an die Rentenentwicklung vor. Das wurde bis ins letzte Jahr so gehandhabt: erhöhen sich die Renten, erhöht sich auch der Regelleistungssatz; bleiben die Renten gleich oder sinken sie, verändert er sich nicht. Und es wollte sich mit dauernden besonderen Belastungen im Sinne sozialer Härten befassen.

Das geschah im Oktober 2009 und bis zum 9. Februar 2010 brauchte das Gericht dann.

Verfassungswidrig, aber……

An diesem Tage fällte es ein Urteil, das einige sogleich bejubelten, aber die meisten (vor allem, nachdem sie die engbedruckten 39 Urteilseiten im Juristendeutsch gelesen hatten) eher ratlos zurückließ. Was hatte das Gericht entschieden?

Es hat (wir verdeutschen es der Klarheit halber) gesagt: ja, die Regelsätze sind verfassungswidrig, auch die Erhebung ist es eigentlich, aber wenn ihr, liebe Regierung und alle, die das Gesetz schufen und ausüben, alles besser begründet bzw. kommuniziert, dann ist es doch wieder verfassungsgemäß!

Ja, was nun? Der gesunde Menschenverstand sagt sich doch, entweder ist etwas verfassungswidrig (und das ist ja nun mal kein Kavaliers- oder Kleindelikt wie falsches Parken) oder nicht! Unsere Einschätzung, mit der wir nicht alleine dastehen, ist daher: ein windelweiches Urteil, das den GesetzeserfinderInnen und der jetzigen Bundesregierung nicht wirklich wehtun will, aber den Protest auffangen und kanalisieren will, damit wieder Ruhe eintritt.

Wie auslegungsfähig dieses Urteil ist, sehen wir u. a. darin, dass kurz nach der Urteilsverkündung erste Stimmen aus dem Unternehmenslager und von Mitte bis Rechts laut wurden, die sich sogar Kürzungen der Regelleistungssätze vorstellen können bzw. wollen. Nur halt gut begründet, wie es das Gericht will.

Auch wenn das nicht passieren wird, so wird es wohl kaum um eine generelle Erhöhung der einzelnen Stufen und der Sätze gehen, sondern es wird evtl. Beruhigungszückerli in Form von Sachleistungen geben. So sprach die Bundessozialministerin Ursula von der Leyen bald von Schulspeisungen, von der Anschaffung der Schulranzen durch die Behörden usw. Nichts dagegen, aber Sinn macht das nur, wenn das wirklich zusätzlich geschieht und das ganze Regelsatzwerk deutlich erhöht wird. Auch die Summen für Erwachsene.

In allen Punkten, in denen es Änderungen bzw. bessere Begründungen möchte, hat das BVerfG der Regierung und den verantwortlichen Behörden eine Frist bis zum 31.12. dieses Jahres gesetzt. Es hat auch geklärt, dass es rückwirkend keine Forderungen zulässt. Bis zur Urteilsfindung hatten viele dazu aufgerufen, einen Überprüfungsantrag (SGB X, Paragraph 44) zu stellen, der bei falschem Behördenhandeln oder eben solchen Änderungen bis zu 4 Jahren rückwirkend zu Nachforderungen berechtigt. Sonst hat mensch ja nur 30 Tage Zeit für einen Widerspruch gegen den gerade aktuellen Bescheid oder andere Entscheidungen.

…wenn besser begründet,….

Was hat es noch entschieden:

a)Die Bindung an die Rentenerhöhung gilt nicht mehr. An was eine mögliche Erhöhung nun angebunden wird, muss sich die Regierung neu ausdenken. Das Gericht empfiehlt eine Bindung an die Preisentwicklung.

b)Die Erhebung der Regelleistungssätze ist zwar nicht evident verfassungswidrig (Originalton BVerfG), soll aber auch besser und verständlicher dargestellt werden. Es hatte sich herausgestellt, dass die Berechnung aufgrund von Erfassung vor allem der Haushalte im unteren Einkommensbereich bei Alleinstehenden und Familien vorgenommen wurde, wobei ein großer Teil Rentnerhaushalte waren (keine Kinder, keine Bildungskosten usw.). Das hatte zwar immer noch mehr ergeben, als jetzt ausbezahlt wird, so dass dann einfach willkürliche Abstriche gemacht wurden.

c)Im Bereich atypischer dauernder Belastungen (besondere Belastungen im Sinne sozialer Härten) allerdings soll etwas getan werden. Wer nun glaubt, dass es in Zukunft vielleicht doch wieder Hilfen bei der Brillenbeschaffung oder beim Zahnersatz gibt, wird sich wohl leider getäuscht sehen. Das würde nämlich eine Menge Geld kosten und solche Maßnahmen werden dann lieber gelassen. Was genau die zu erstellende Liste bzw. der Maßnahmenkatalog (so nennt ihn die Bundessozialministerin) umfassen wird, wollte sie gleich nach Ostern veröffentlichen und nicht bis zum Jahresende warten. Das ist löblich, aber bis zu unserem Redaktionsschluss hatte sie es denn doch noch nicht geschafft.

…dann doch nicht verfassungswidrig!?

Das Fazit kann nur Ernüchterung sein. Es ist wirklich denkbar, dass unter dem Strich für alle weniger dabei herauskommt als vorher. Im Laufe des Jahres wird es sich weisen und wir werden berichten. Nach der Ankündigung des Bundeswirtschaftsministeriums, die Schuldenbremse zu ziehen (wir wollen nicht wie die Griechen sein), können wir uns wohl noch auf einiges gefasst machen.

Einige Ansätze deuten schon in diese Richtung. So hat das Bundessozialgericht am 23.3.2010 ein Urteil gefällt, in dem es sagt, dass es keine zusätzlichen Zahlungen zu den Regelleistungssätzen speziell für Kinderkleidung geben muss. Das scheint uns schon eine klare Reaktion auf das BVerfG-Urteil zu sein und ist eine neuerliche Enttäuschung für Eltern im Bezug von ALG II.

Was ist noch passiert?

Es hat vor der Wahl von der jetzigen Bundesregierung mehrere Versprechen auch in Richtung ALG II gegeben. Eine ist vor wenigen Wochen wahrgemacht worden. Das unter b) beschriebene fest angelegte Vermögen wurde von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr erhöht.

Es gibt ja für alle, die die Leistung ALG II beziehen, zwei verschiedene Arten von Vermögen, die bis zu einer gewissen Höhe im Sinne einer Altersvorsorge geschont sind.

das allgemeine geschonte Vermögen: das beinhaltet vom Bargeld in der Tasche bzw. im Portemonnaie über das Girokonto bis hin zum Sparkonto, evtl. Wertpapierdepots, Briefmarkensammlungen, Pelzmäntel, Luxusartikel, Bausparverträge; eben alles, was nicht langfristig angelegt ist. Ursprünglich waren hier 200 Euro pro Lebensjahr angesetzt, die mit einer der ersten Gesetzesänderungen auf 150 Euro pro Lebensjahr abgesenkt wurden. Für jüngere Menschen im Bezug gibt es einen Mindestbetrag von 3.100 Euro für alle (also auch für Kleinkinder, dann muss allerdings ein Konto auf deren Namen eröffnet werden). Für Erwachsene kommt dazu noch mal ein Betrag von 750 Euro für zum Beispiel evtl. Wiederanschaffungen (Waschmaschine, Kühlschrank, Möbel etc.). Interessant dabei ist, dass am 1.1.2005 noch 4.100 Euro plus 750 Euro im Gesetz standen. Immer dasselbe Spiel: durch nachträgliche Gesetzesänderungen wurden die Summen, die eindeutig die meisten Beziehenden betreffen, nach unten korrigiert.

das fest angelegte geschonte Vermögen: hierzu zählen Lebensversicherungen u. ä., die allerdings bis zur Erreichung des gesetzlichen Rentenalters festgelegt sein müssen. Dieses muss auch möglichst wörtlich so in der Versicherungspolice stehen. Diese geschonte Vermögensart betrug am Anfang auch 200 Euro, wurde dann auf 250 Euro erhöht. Und nun sogar auf 750 Euro pro Lebensjahr.

Eben dieses hatten FDP und CDU/CSU versprochen. Nun, wir sind nicht dagegen. Die Beträge, um die es bei beiden Arten von Schonvermögen geht, sind im Hinblick auf die Bestimmung als Alterssicherung ohnehin kaum der Rede wert.

ARGEn, Job-Center, Optionskommunen

Dann wäre noch zu berichten, dass die Neuorganisation der ARGEn und der Job-Center langsam voran kommt. Wir erinnern uns, die meisten Kommunen und Landkreise haben 2005 neue Behörden geschaffen, die sich ARGEn (Arbeitsgemeinschaften, z. B. die Sozialagentur in Northeim) nannten und aus der Agentur für Arbeit und den kommunalen Behörden zusammengesetzt wurden. Im Gegensatz dazu haben 69 Kommunen und Landkreise in einem Feldversuch, der 2010 enden sollte, nur aus den eigenen Kräften eine neue Behörde geschaffen. Diese nennen sich dann oft Job-Center, diese Kommunen sind sog. Optionskommunen. Stadt und Landkreis (federführend dabei) Göttingen und auch Osterode sind solche Optionskommunen. Weil sie diese Wahl der Eigenständigkeit ergriffen haben. Hintergrund war, zu schauen, wer sich denn besser um die Erwerbslosen kümmern könne und sie schneller in Arbeit bringen würde. Da eines der Hauptprobleme der Arbeitslosigkeit aber das Fehlen von Arbeit, vor allem in Form von sozialversicherungspflichtigen unbefristeten Vollzeitstellen ist, war von vornherein klar, dass niemand besser darin sein kann, nicht vorhandene Arbeit besser zu verteilen. So ist es denn auch gekommen.

Nichtsdestotrotz hat sich noch herausgestellt, dass die jetzige Form der ARGEn nicht verfassungskonform ist. Wir ersparen uns hier die Einzelheiten, es sind eher formale Dinge. Auf jeden Fall hat die Bundesregierung eine Kommission eingesetzt, die gerade in den letzten Tagen ihre ersten Ergebnisse vorstellte und es möglich machen will, dass die ARGEn fortbestehen können. Zu den Optionskommunen gibt es bereits einen Regierungsbeschluss, dass diese bis auf Weiteres genau so fortexistieren können und evtl. sogar noch einige dazu kommen können. Um die Verwirrung weiter zu vergrößern, redet die Bundessozialministerin davon, dass die Zusammenarbeit zukünftig nicht in ARGEn, sondern in Job-Centern fortgeführt werde. So heißen denn ja aber eigentlich die Behörden der Optionskommunen. Nun, wir werden sehen.

Dann wäre da noch der Bundesvorstand der Agentur für Arbeit, aus dessen Reihen der Vorschlag kommt, die Kosten für die Unterkunft, den zweiten Betrag der Leistung ALG II, zu pauschalieren und nicht, wie bisher, entweder nach Mietspiegel (so vorhanden) oder am Wohngeldgesetz ausgerichtet oder nach Erhebungen und Gutachten ausgeguckt, zu berechnen und zu bezahlen. Ein sehr gefährlicher Vorschlag, denn wir dürfen kaum erwarten, dass diese Pauschalen so großzügig ausfallen, dass allgemeine Zufriedenheit ausbricht. Ganz im Gegenteil. Was heute schon passiert, dass eine ganze Reihe von Leistungsbeziehenden Monat für Monat etliche Euro aus ihrem (sowieso nicht ausreichendem) Regelsatz zu den höheren Kosten für ihre Unterkunft zubuttern, um ihre Wohnung halten zu können, die eben nach den bestehenden Regeln nicht ganz angemessen in der Miethöhe ist, das würde dann wahrscheinlich noch viel mehr Menschen betreffen und evtl. sogar noch mit höheren monatlichen Beträgen.

Die Zahl der Widersprüche geht kaum zurück, die Sozialgerichte sind nach wie vor überlastet und auf lange Sicht gut beschäftigt. Bei all dem, was oben geschildert wurde, ist kaum abzusehen, dass sich daran etwas ändert. Deutliche Erhöhungen der Regelleistungen sind das Mindeste, besser noch ein Einstampfen dieser Machwerke (Sozialgesetzbücher II und XII) und ein bedingungsloses und ausreichendes Grundeinkommen neben sinnvollen und voll bezahlten und unbefristeten Arbeitsplätzen. Von denen dann genug geschaffen werden müssten, was bei anderer Prioritätensetzung durchaus geht.

Zum Anfang

 

Sartorius:

Krise? - Welche Krise für wen?

Sartorius ist in Göttingen seit langem der größte industrielle Arbeitgeber. Daher schauen viele Menschen besonders genau hin, wie sich die wirtschaftliche Lage dieses Unternehmens entwickelt. Seit Beginn des Jahres 2009 ist die Mechatronik bei Sartorius, wie viele andere Industriebetriebe, von einer schweren Krise betroffen. Bereits Ende 2008 gab es erste Anzeichen und in den ersten beiden Quartalen 2009 wurde das gesamte Ausmaß der Krise sichtbar: der Umsatz ging drastisch zurück und trotz einer leichten Erholung in der zweiten Jahreshälfte blieb ein Minus von 15% gegenüber 2008. In der Biotechnologie (Filterproduktion) gab es dagegen ein Umsatzwachstum von über 9%, so dass der Gesamtumsatz nur um 1,6% geschrumpft ist.

Volle Auftragsbücher

"Mit einem blauen Auge davon gekommen", könnte man angesichts der gesamtwirtschaftlichen Krise meinen, zumal die KollegInnen berichten, dass inzwischen wieder ganz andere Probleme bei Sartorius auf dem Tisch liegen: seit einigen Monaten kommen mehr Waagenbestellungen rein als in der Produktion geschafft werden kann. Das ist natürlich positiv für die KollegInnen, die in Kurzarbeit mit Qualifizierungsmaßnahmen (Kurzarbeit Null) geschickt worden sind und nun an ihre Arbeitsplätze zurück geholt wurden. Trotzdem sind die KollegInnen insgesamt nicht begeistert über das Management, das mit dem Rasenmäher durch alle Abteilungen gegangen ist und überall und zu viele KollegInnen in Kurzarbeit Null geschickt hat. Verständlich, wenn man weiß, dass der Betriebsrat bereits seit Monaten davor gewarnt hat, dass die Firma Gefahr läuft, Marktanteile zu verlieren, weil die Kunden nicht zeitgerecht beliefert werden können.

Jammern auf hohem Niveau?

Nun könnte man das Jammern auf hohem Niveau nennen, man sollte aber nicht vergessen, wie die Bilanzzahlen zustande gekommen sind. Dass der Sartorius Konzern im Jahr 2009 insgesamt sogar einen kleinen nominellen Gewinn schreibt, ist wohl hauptsächlich auf Gehaltsverzicht der KollegInnen zurückzuführen:

Die Tariferhöhung 2009 in der Mechatronik wurde um 7 Monate verschoben

Fast alle KollegInnen der Mechatronik haben Kurzarbeit gemacht und auf bis zu 10% Netto verzichtet

Für die KollegInnen in der Produktion gab es weitere Einbußen durch den Wegfall von Schichtzulagen und Prämien

Leiharbeiter und befristete KollegInnen haben ihren Arbeitsplatz verloren

ca. 140 KollegInnen wurden in der zweiten Jahreshälfte in "Kurzarbeit Null" geschickt, verloren so fast 20% der Bezüge und noch immer sind ca. 100 von ihnen vom Verlust des Arbeitsplatzes bedroht (ca. 30 KollegInnen arbeiten aufgrund der besseren Konjunktur wieder voll)

Durch eine neue Prämienregelung, die Anfang 2010 in der Mechatronik eingeführt wurde, verlieren die Beschäftigten nochmal 5% des Gehalts – mit der vagen Aussicht, es bei gutem Geschäftsverlauf wieder zu bekommen

In der Biotechnologie ist vor über einem Jahr ebenfalls ein Prämiensystem vereinbart worden und eine unbezahlte Wochenarbeitsstunde eingeführt worden

All dies hat die Stimmung unter den KollegInnen natürlich nicht verbessert. In der Mechatronik kritisieren viele KollegInnen vor allem das neue Prämiensystem, denn die meisten halten es für unrealistisch, dass sich der Konzerngewinn in den nächsten Jahren so verbessert, dass der Gehaltsverlust durch eine Prämie kompensiert werden kann. Sie sehen sich da bestätigt durch die Situation in der Biotechnologie, wo trotz der guten Ergebnisse in der zweiten Jahreshälfte 2009 keine großartige Prämie sprudelte. Es ist kaum zu erwarten, dass die vielzitierte "Möhre" zu höheren Leistungen motiviert, wenn sie so hoch hängt, dass der Esel fliegen können müsste, um sie zu erreichen.

Gehaltssicherung

Dass es auch anders geht, beweist hier der Vorstandschef Kreuzburg, dessen Erfolgsprämie in 2009 trotz des bescheidenen Jahresergebnisses nahezu konstant blieb. Der Fairness halber sei hier erwähnt, dass der Vorstandsvorsitzende allerdings auf einen Teil seines Festgehaltes verzichtet hat, so dass er in diesem Jahr "nur" 726.000 Euro nach Hause tragen konnte.

Für Unruhe sorgt in der Biotechnologie auch die Tatsache, dass der in großen Zeitungsartikeln verkündete Neubau einer Ziehmaschine, für den die KollegInnen auf so manchen Euro Gehalt verzichten müssen, immer noch nicht begonnen ist. Nach dem letzten Informationsstand ist jetzt eine verkleinerte Variante geplant – angesichts der weiterhin hohen Verschuldung des Konzerns müssen Investitionen wohl im Moment auf Sparflamme gekocht werden.

Sparflamme

Der Grund für diese Sparsamkeit wird bei einem genaueren Blick in die Bilanz deutlich: der erwirtschaftete Gewinn reicht bei Weitem nicht aus, die Gewinnanteile der Minderheitsgesellschafter in der Sartorius Stedim S.A. auszuzahlen. Rechnet man diese Anteile in Höhe von ca. 8 Mio. Euro heraus, so bleibt letztlich ein Verlust von 43 Eurocent pro Aktie. Dass es trotzdem geplant ist, den Aktionären eine Dividende von 40 bzw. 42 Cent pro Aktie – insgesamt 7 Mio. Euro – auszuzahlen, zeigt den KollegInnen, wofür sie eigentlich Verzicht üben mussten. Irritierend sind in diesem Zusammenhang übrigens auch die 6 Mio. Euro, die im Jahr 2009 an ehemalige Geschäftsführer bzw. an deren Hinterbliebene gezahlt wurden.

Zum Anfang

 

Mahr: Zurück im Verband

Seit 1998 war die Göttinger Firma Mahr nicht mehr im Verband der Metallindustriellen. Damit es weiterhin gültige Tarifverträge für die ca. 700 KollegInnen gab, hat die IG Metall Jahr für Jahr einen Haustarif verhandelt, der sich natürlich an den Flächentarifen orientierte. Der wirtschaftliche Einbruch des letzten Jahres, als bei Mahr der Umsatz um zurückging, war dann Anlass für die Unternehmensleitung, wieder mit der IG Metall zu verhandeln.

Schwierige Lage

Das Unternehmen stand mit dem Rücken an der Wand, weil die Banken die Kreditlinie nicht ausweiten wollten – zweihundert Arbeitsplätze waren akut gefährdet. Auf Entlassungen wollte die Geschäftsleitung zwar verzichten, aber das Jahr 2009 war für KollegInnen wegen der heftigen Einbußen durch Kurzarbeit und den Wegfall von Schichtzulagen schon schwer genug.

Rückkehr zum Flächentarif

Diesmal bestand die Gewerkschaft aber auf der Rückkehr zum Flächentarif. Ergänzend gibt es jetzt bis Mitte nächsten Jahres einen Sondertarifvertrag, der die Überlebensfähigkeit der Firma sichern soll. Die KollegInnen verzichten auf Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld – zusammen ist das immerhin fast ein ganzes Monatsgehalt. Dafür sind sie während der Laufzeit vor Kündigungen geschützt.

Und zusätzlich gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer: wenn die Geschäftslage bei Mahr wieder besser wird und das Konzernergebnis in den Jahren 2011 und 2012 über 5% liegt, dann bekommen die KollegInnen das Geld, das sie jetzt verlieren, zurück. Dazu verzichten die Gesellschafter auf eine Gewinnausschüttung und die leitenden Angestellten erhalten weniger Geld.

Optimismus

Für Optimismus sorgt die Tatsache, dass Mahr trotz der schwierigen Situation die Ausgelernten ein Jahr übernommen werden. Es werden weiterhin im bisherigen Umfang Auszubildende eingestellt und der Tarifvertrag für die Ausbildung von Studenten im Praxisverbund wurde auch verlängert.

Zum Anfang

 

Colwell: Kurzarbeit rettet Arbeitsplätze?

Viel gepriesen als effektives Mittel der Wahl zur Verhinderung von Firmenpleiten und dem daraus resultierenden Verlust von Arbeitsplätzen, hat die Kurzarbeit in Zeiten der Krise nicht nur eine gute Publicity in den Medien, sondern Hochkonjunktur auch in Göttinger Betrieben.

Firmen in finanziellen, existenzbedrohenden Schwierigkeiten können ihre Beschäftigten in Kurzarbeitsphasen durch staatliche Subventionen weiter beschäftigen, um so zum Einen den Betrieb zu erhalten und zum Anderen die Existenz der Beschäftigten zu sichern. So zumindest der Plan. Allerdings sollte dies Anlass zu einem skeptischen Blick auf die Betriebe sein, welche so versuchen, durch die ‚Krise’ zu lavieren.

Colwell Industries verfügt über ein ‚globales Netzwerk von Fertigungsstätten und Vertriebsniederlassungen’. Eine dieser Fertigungsstätten befindet sich auch hier in Göttingen und ist von der aktuellen Wirtschaftskrise betroffen. Weshalb sonst sollte man die Beschäftigten dort über einen sehr langen Zeitraum Kurzarbeit machen lassen?

Nix ist gerettet

Gerettet ist dadurch allerdings gar nichts – zumindest nicht die Arbeitsplätze und somit die Einkommen der dort Beschäftigten! Bereits seit mehreren Jahren müssen die Kolleginnen und Kollegen der Firma Colwell (vormals McCorquodale) finanzielle Verluste hinnehmen. Die Lage sei dramatisch schlecht, wurde die Firmenleitung nicht müde, den Beschäftigten einzureden.

Weihnachts- und Urlaubsgeld wurden nicht mehr gezahlt, aber auf die Anschaffung neuer großer Firmenwagen nicht verzichtet. Diese seien der Firmenleitung schließlich per Arbeitsvertrag zugesichert, hieß es. Die per Arbeitsvertrag der Kolleginnen und Kollegen geregelten Arbeitszeiten und deren Bezahlung hatte hingegen in diesen Zeiten der ‚Not’ keine Gültigkeit mehr. Unbezahlte Mehrarbeit zur Rettung (... tja, wovon eigentlich? - der Beschäftigungsverhältnisse oder eher des Gewinns?), war an der Tagesordnung.

Und als dann wenig zu tun war, war eine besonders kostengünstige Alternative greifbar nah – Kurzarbeit musste her.

Ob die Auftragslage tatsächlich derart schlecht war, darf bezweifelt werden, denn wie bereits erwähnt, agiert Colwell global. Es gibt in den USA, in Kanada, in Belgien und in Frankreich weitere Fertigungsstätten und Skeptiker dürfen sicher mit Recht annehmen, dass einige Aufträge nun statt in Göttingen in einem der anderen Werke ausgeführt werden.

Kann man es Colwell verdenken? Es handelt sich schließlich um ein profitorientiertes Unternehmen, welches genau nach den Gesetzmäßigkeiten des Systems handelt – Mitnehmen was geht. Die Kontrollen durch staatliche Stellen sind anscheinend eher dürftig.

Nix hat geholfen

Nach langem Gezerre vor allem an den Nerven der Kolleginnen und Kollegen ist das Göttinger Werk durch die Kurzarbeit … oh nein, nicht etwa gerettet, sondern insolvent.

Die Beschäftigten wurden monatelang unter Druck gesetzt, haben unbezahlte Mehrarbeit geleistet, auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichtet, sich aufgerieben und für wenig Geld Kurzarbeit gemacht und nun droht vorerst 25 von ihnen die Entlassung. Und wenn sich kein Geldgeber findet, dann kann das die Arbeitsplätze von bis zu 80 Kolleginnen bedrohen.

Zum Anfang

 

Tipp: Transf(ai)rgesellschaften

In Folge der Wirtschaftskrise wurden bereits viele Arbeitsplätze vernichtet und weitere sind bedroht. Im Falle befristeter und tarifvertraglich nicht geschützter Arbeitskräfte ist die Sache einfach. Ihre Verträge laufen aus und werden danach nicht verlängert, ansonsten reichen Kündigung und Ablauf der Kündigungsfrist. Bessere Chancen, ihren Arbeitsplatz zu behalten, haben Beschäftigte, die durch Tarifverträge - in gewissem Umfang - geschützt und von Betriebsräten - hoffentlich - vertreten werden. In diesen Fällen ziehen Unternehmen die Gründung einer Transfergesellschaft, manchmal auch Qualifikationsgesellschaft genannt, dem Weg über Kündigungen oft vor. Das klingt besser - richtig sozialverträglich - kann aber auch zum Nachteil der Beschäftigten sein.

Der theoretische Ansatz lautet wie folgt: Die Gesellschaften sollen den Übergang von einem Arbeitsplatz zu einem anderen erleichtern (im besten Fall) oder den Weg in die Arbeitslosigkeit abmildern. Es stellt sich die Frage, ob diese Instrumente den Betroffenen tatsächlich helfen können und welche Interessen dabei eine Rolle spielen.

In der Vergangenheit war es so: Nachdem ein Arbeitgeber die Entscheidung getroffen hatte, eine größere Anzahl an Arbeitnehmer/innen zu entlassen oder sogar einen Betrieb oder Betriebsteil zu schließen, ging es sehr oft für die Betroffenen nur um die Frage "Wie hoch ist denn meine Abfindung?".

Für Arbeitgeber und Betriebsräte stellen sich bei einem Personalabbau zwei Alternativen.

"Klassisch", wie das Gesetz es vorsieht!

Die Verhandlungen mit einem Betriebsrat über den Abschluss eines Interessenausgleich und Sozialplanes, das Anhörungsrecht vor Ausspruch der Kündigungen, Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit und die Einholung der Zustimmungen der Kündigungen beim Integrationsamt für die Schwerbehinderten sind einzelne Schritte, die vom Gesetzgeber vorgegeben sind. Diese Maßnahmen ziehen sich über mehrere Monate hin. Bei den langjährig Beschäftigten folgt dann noch eine Kündigungsfrist von 7 Monaten, die zu beachten ist. In der Regel brauchen die Beteiligten für den vorgenannten Prozess fast ein Jahr, bis die Gekündigten tatsächlich den Betrieb verlassen haben.

Jetzt beginnt noch die Unsicherheit für den Arbeitgeber, weil die Betroffenen sich gegen eine Kündigung beim Arbeitsgericht wehren können. Ein Rechtsstreit beim Arbeitsgericht in erster Instanz und zweiter Instanz dauert in der Regel mindestens 12 Monate. Während des Laufens der Kündigungsfrist sind die Arbeitnehmer noch im Betrieb und können z.B. Informationen für ihren anstehenden Arbeitsgerichtsprozess sammeln . Zum Beispiel über Umsatzentwicklungen oder über Sozialdaten der vergleichbaren Arbeitnehmer, die nicht gekündigt worden sind. Diese Arbeitnehmer sind ein gewaltiger Unruheherd im Betrieb. Um dies zu vermeiden, wollen die Arbeitgeber, dass Arbeitnehmer, die eine Kündigung erhalten haben, möglichst schnell aus dem Betrieb entfernt werden.

"Sozial" mit einer Transfergesellschaft.

Es wird eine Transfergesellschaft gegründet. Hierfür stellen der Arbeitgeber und die Agentur für Arbeit Geld zur Verfügung. Die Agentur für Arbeit übernimmt zwischen 60% und 67% des Entgeltes, das sogenannte Strukturkurzarbeitergeld. Die Arbeitnehmer lösen aufgrund eines sogenannten dreiseitigen Vertrages (Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Transfergesellschaft) ihr bisheriges Arbeitsverhältnis kurzfristig auf und begründen bei der Transfergesellschaft ein neues Arbeitsverhältnis. Der alte Arbeitgeber wird die Arbeitnehmer innerhalb weniger Tage los und neuer Arbeitgeber ist die Transfergesellschaft. Entscheidend für den Arbeitgeber ist, dass es sich bei diesem Vorgang nicht um Kündigungen handelt, so dass eine gerichtliche Überprüfung im Rahmen eines Kündigungsrechtsstreites nicht möglich ist – denn der Beschäftigte hat ja dem Wechsel vertraglich zugestimmt. Weiterhin gibt es für den Arbeitgeber Planungssicherheit – er weiß, welche Arbeitnehmer er auf jeden Fall los ist und muss sich nicht mit Fragen der unternehmerischen Entscheidung und der durchgeführten sozialen Auswahl beim Arbeitsgericht auseinandersetzen. Wichtig ist auch, dass die betroffenen Arbeitnehmer nicht mehr im Betrieb sind.

Den Arbeitnehmern, die von der Kündigung betroffen sind, werden folgende Argumente für die Transfergesellschaften genannt:

  • Statt Arbeitslosengeld gibt es Strukturkurzarbeitergeld und manchmal noch einen Aufstockungsbetrag vom alten Arbeitgeber.
  • Die Arbeitnehmer werden von der Transfergesellschaft sofort in eine andere Arbeit vermittelt.
  • Sollte es wieder freie Arbeitsplätze beim alten Arbeitgeber geben, werden zuerst die Arbeitnehmer/innen aus der Transfergesellschaft eingestellt.
  • Die Transfergesellschaft führt während des Laufens der Maßnahme erste Qualifikationsmaßnahmen, wie zum Beispiel Bewerbungstraining, durch.
  • Die im Sozialplan vereinbarte Abfindung wird sofort ausgezahlt.
  • Wenn die Arbeitnehmer/in keinen neuen Arbeitsplatz findet, schließt sich an die Transfergesellschaft noch die Zeit für das normale Arbeitslosengeld I an.

Alle größeren Unternehmen haben ein Interesse an einem guten Image. Es macht sich einfach nicht gut, es ist keine positive Botschaft, wenn in der Öffentlichkeit die Entlassung von Arbeitnehmern bekannt gegeben wird. Besser klingt da schon der Hinweis auf die schmerzliche Entscheidung und die Erklärung, dass den Gekündigten der Übergang in eine Transfergesellschaft ermöglicht wird. Zudem – darüber wird nur selten offen gesprochen – ist diese Alternative für den Arbeitgeber häufig billiger, weil der größte Teil der Kosten der Transfergesellschaft ja von der Agentur für Arbeit übernommen wird.

Wie soll der Betroffene sich jetzt entscheiden? Etwas verkürzt, heißt die Alternative Transfergesellschaften oder Kündigung. Nachdem der Betriebsrat mit dem Arbeitgeber den Interessenausgleich und Sozialplan inklusive der Gründung einer Beschäftigungsgesellschaft vereinbart hat, werden die betroffenen Arbeitnehmer in die Personalabteilung gebeten. Ihnen wird die Situation geschildert. Der Interessenausgleich, manchmal auch mit der Liste der zu kündigenden Arbeitnehmer und der anschließende Übergang in Transfergesellschaften erläutert. Abschließend wird dann verdeutlicht, dass eine Kündigung ausgesprochen wird, wenn der Betroffene dem Übergang in die Beschäftigungsgesellschaft nicht zustimmt. Der so informierte Arbeitnehmer bekommt einen mehrseitigen Vertrag mit dem Hinweis ausgehändigt, dass er eine Woche Bedenkzeit hat.

Der Arbeitnehmer geht dann hilfesuchend durch den Betrieb oder die Verwaltung. Arbeitgeber und Betriebsräte empfehlen den Übergang in die Transfergesellschaften. Kolleginnen und Kollegen ergänzen dies mit Kommentaren wie: "Mach es, Du hast sowieso keine Chance beim Arbeitsgericht" oder "Nimm möglichst schnell die Abfindung, wer weiß, wie es im halben Jahr bei uns aussieht". Der betroffene Arbeitnehmer muss in wenigen Tagen eine der wichtigsten Entscheidungen in seinem Arbeitsleben treffen. Entweder sich in die Transfergesellschaft begeben oder sich gegen die Kündigung wehren, ohne zu wissen, ob dies erfolgreich sein wird.

Warum vereinbaren Betriebsräte die Gründung von Beschäftigungsgesellschaften?

Betriebsräte haben in der Bundesrepublik keine Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Die Entscheidung zur Schließung eines Betriebes oder Betriebsteiles oder die Kündigung einer großen Gruppe von Arbeitnehmern ist eine freie unternehmerische Entscheidung des Arbeitgebers. Etwas verkürzt dargestellt, der Betriebsrat kann auf rechtlichem Weg mit Hinweis auf das Betriebsverfassungsgesetz Entlassungen nicht verhindern.

Die nicht gekündigten Arbeitnehmer sehen sich vom Betriebsrat gut betreut. Die von Kündigung Betroffenen sehen dies anders und sind vom Betriebsrat sehr enttäuscht. Die Transfergesellschaften dienen also auch zur Beruhigung des schlechten Gewissens der Betriebsräte. Auf der anderen Seite verschaffen sie den Betroffenen aber ein Jahr mehr Zeit, einen anderen Arbeitsplatz zu finden ohne von Hartz IV abhängig zu sein.

Im Bereich der Beschäftigungsgesellschaften ist ein richtiger Markt vorhanden. Es gibt Träger von Transfergesellschaften, die Gewerkschaften und Betriebsräten sehr nahe stehen und deshalb die Betriebsräte bei den Überlegungen zur Gründung einer Transfergesellschaft unterstützen. Das geht so weit, dass Rechtsanwälte die den Betriebsrat bei den Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleiches und Sozialplanes beraten, gleichzeitig Geschäftsführer der Transfergesellschaften sind, oder ein anderes Beispiel, wo ein Teil der Mitglieder des Gesamtbetriebsrates anschließend Mitarbeiter der Transfergesellschaften (Woolworth) werden. Wenn jemand im Altersbereich von 60 Jahren ist, kann die Transfergesellschaft für ihn die Brücke aus dem Erwerbsleben, über Transfergesellschaften und dem anschließenden Bezug von 24 Monaten Arbeitslosengeld, in die Rente sein. Eine Unterschrift unter dem Vertrag ist dann nachvollziehbar. Für den größeren Teil der Arbeitnehmer ist der Übergang in eine Transfergesellschaft der Einstieg in Arbeitslosigkeit ohne dies ohne dass eine gerichtliche Überprüfung möglich oder aussichtsreich ist.

Welche Forderungen sollte man stellen?

  • Arbeitnehmer, die vor der Frage stehen, Transfergesellschaften oder nicht, müssen eine angemessene Bedenkzeit haben.
  • Die Betroffenen müssen die Möglichkeit bekommen, sich arbeitsrechtlich beraten zu lassen.
  • Die Arbeitnehmer müssen vom Betriebsrat oder Arbeitgeber den Interessenausgleich und den Sozialplan ausgehändigt bekommen.
  • Eine Liste der zu kündigenden Arbeitnehmer darf nicht zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber vereinbart werden. Wenn eine solche Liste besteht, braucht das Arbeitsgericht die Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen. Die Prozesschancen sinken für den betroffenen Arbeitnehmer erheblich.
  • Wenn ausländische Arbeitnehmer betroffen sind, sollten die Verträge besonders ausführlich erläutert werden.
  • Sollte eine soziale Auswahl stattgefunden haben, muss der Arbeitgeber oder der Betriebsrat dem betroffenen Arbeitnehmer die soziale Auswahl erläutern.

Ganz wichtig: niemand sollte sich drängen lassen, unter Zeitdruck einen dreiseitigen Vertrag oder einen Aufhebungsvertrag zu unterschreiben. Bei einem Arbeitsvertrag gelten nicht die Regeln eines Haustürgeschäftes, wo man für die Rücknahme einer Unterschrift unter ein Abo z.B. zwei Wochen Bedenkzeit hat. Unterschrieben ist unterschrieben, da kann dann kein Rechtsanwalt mehr helfen. Also vorher Rechts- und Sozialberatung einholen beim Betriebsrat und bei der Gewerkschaft. Die Rechtsstellen der Gewerkschaften können auf jeden Fall erfahrene Arbeitsrechtsanwälte nennen – nicht jeder Rechtsanwalt, der ein tolles Türschild hat, ist das Geld auch wert, das man ihm für die Beratung zahlen muss.

Zum Anfang

 

 

Wirtschaftskrise: Sündenbock Griechenland?

Dank staatlicher Beihilfen hat das große Geld die Wirtschaftskrise gut überstanden. Im Vertrauen auf weitere Hilfen steigen Börsenkurse und Renditeerwartungen auch ohne einen Wirtschaftsaufschwung, der diese Anstiege rechtfertigen könnte, wieder an. Gleichzeitig werden einer Reihe von EU-Ländern, insbesondere Griechenland, eine drohende Staatspleite angedichtet und Sparprogramme aufgezwungen. Die Botschaft ist klar: Wer nichts – oder nicht viel – hat, dem wird auch nichts gegeben. Dies gilt zwischen reichen und ärmeren Ländern ebenso wie zwischen den Reichen und Armen in einzelnen Ländern. Wer sich von einer "harten Linie" gegenüber Griechenland allerdings die Sicherung von Arbeitsplätzen und Sozialsystemen in Deutschland verspricht, dürfte enttäuscht werden. Beschäftigungs- und Sozialabbau haben in der Vergangenheit jene Wettbewerbsfähigkeit geschaffen, vor der die griechische Wirtschaft nun in die Knie gegangen ist. Trotzdem konnte auch der Exportweltmeister Deutschland der Krise nicht entgehen. Beschäftigte, die hierzulande noch um Arbeitsplatz und Sozialversicherung bangen, sind vom organisierten Vermögensbesitz bereits als die Griechen von morgen ausersehen.

Wirtschaftskrise, Staatsintervention und Sündenböcke

Börsenkrach und Bankenzusammenbrüche erschütterten die Weltwirtschaft im Herbst 2008. Danach kam es in fast allen Ländern der Welt zu einem Absturz von Investitionen, Produktion und Umsatz. Vermögensbesitzer sorgten sich um ihre Rendite und Beschäftigte um ihre Arbeitsplätze. Da kam der Staat zu Hilfe: Milliardenschwere Konjunkturprogramme wirkten dem Rückgang privater Nachfrage entgegen. Auf diese Weise konnte der Wirtschaftsabschwung im Frühsommer 2009 eingedämmt werden. Banken, Anlagefirmen und Versicherungen konnten ihre Bilanzen dank staatlicher Subventionen sanieren. Zentralbankkredite zum Nullzinssatz verhinderten ein völliges Austrocknen gesamtwirtschaftlicher Kreditflüsse. Die schnellen und massiven Staatseingriffe konnten die Unternehmensverluste im Krisenjahr 2009 begrenzen. Manche Firmen, insbesondere in der Finanzbranche, wurden dank Staatsknete sogar in die Gewinnzone zurückgeführt. Wen wundert's, dass sich die Zukunftserwartungen von Vermögensbesitzern und Finanzinvestoren infolge staatlicher Geldspritzen wieder aufgehellt haben. Auch ohne Wirtschaftsaufschwung – dieser findet in den Verlautbarungen von Konzern- und Regierungschefs nicht bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen statt – steigen Börsenkurse und Gewinnerwartungen seit einem Jahr wieder an. Warum auch nicht? Mit der Gewissheit, dass der Staat die Rendite garantieren wird, die sich am Markt mangels Umsatz nicht erzielen lässt, lassen sich in der Vergangenheit zusammengeraffte Vermögen ganz entspannt am Finanzmarkt anlegen.

Unsicherer ist die Lage am Arbeitsmarkt. Bislang hält sich der Anstieg der Arbeitslosigkeit – die Quote stieg von 7,0% 2008 auf 7,7% 2009 – in Deutschland in Grenzen, weil sich die meisten Unternehmen darauf beschränkten, die Verträge ihrer Zeitarbeitskräfte nicht zu erneuern, ihre Kernbelegschaften aber – mit Unterstützung verlängerter Zahlung von Kurzarbeitergeld – gehalten und teilweise auf Halde produziert haben. Wenn der seit vergangenem Frühjahr angekündigte Aufschwung aber weiterhin ausbleibt und das Kurzarbeitergeld ausläuft, werden Unternehmer in Deutschland mit Entlassungen zu ihren Kapitalistenkollegen im Ausland aufschließen. In den USA, die von den Medien lange Zeit als Beschäftigungswunderland präsentiert wurden, ist die Arbeitslosenquote von 5,8% 2008 bereits auf 9,2% 2009 angestiegen, Tendenz: weiter steigend. Dass die Zahl der tatsächlichen Arbeitslosen die der gemeldeten Arbeitslosen bei weitem übersteigt, ist ein offenes Geheimnis. Schätzungen gehen von einer tatsächlichen Arbeitslosenquote von 16%-18% aus. Im EU-Durchschnitt stieg der Quote der registrierten Arbeitslosen im Jahresvergleich von 7,0% auf 9,1% an; auch hier mit Dunkelziffer und steigender Tendenz.

Die mit der Wirtschaftskrise unter Vermögensbesitzern und Firmenchefs ausgebrochene Sorge um die Zukunft ihrer Profite konnte dank Staatsintervention beruhigt werden, vorerst zumindest. Die Angst, Beschäftigte, Arbeitslose und Rentner könnten sich gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf ihre Schultern wehren, geht dagegen weiterhin um. Außer zwei Großdemonstrationen im vergangenen Frühjahr hat sich bislang zwar wenig in dieser Richtung bewegt. Gewerkschaften und Unternehmer fassen sich gegenwärtig noch mit Samthandschuhen an. Letztere wissen aber, dass Vorsicht die Mutter der Profitkiste ist und präsentieren deshalb schon jetzt einen Sündenbock, der für zukünftige Entlassungen, Lohndruck und Sozialabbau verantwortlich gemacht wird.

Noch vor kurzem hat die Wirtschaftspresse Marktwirtschaft bzw. Kapitalismus für Spekulationsblasen, Finanzkrise und wirtschaftliche Talfahrt verantwortlich gemacht und damit Wahrheiten ausgesprochen, die in ruhigeren Zeiten nur von linken Kritikern zu hören sind. Zur Marktwirtschaft gehört die möglichst uneingeschränkte Verfügungsgewalt der Vermögensbesitzer und Spitzenmanager über eigene bzw. von ihnen verwaltete Vermögen. Wenn dieses Wirtschaftssystem zu Krisen führt, deren Folgen denen aufgebürdet werden, die als abhängig Beschäftigte oder Bezieher von Sozialleistungen vom Vermögensbesitz ausgeschlossen sind, liegt eine Neuaufteilung dieses Besitzes nahe. Wenn der bei wenigen konzentrierte Besitz, und die davon abgeleitete Verfügungsgewalt, die Arbeits- und Lebensbedingungen für viele verschlechtern, ist es nahe liegend, dass künftig alle gleichmäßig an Besitz, Verfügungsgewalt und Verantwortung beteiligt werden. Das wäre dann allerdings keine Marktwirtschaft und kein Kapitalismus mehr, sondern Sozialismus. Davon wollen die Reichen und Mächtigen natürlich nichts wissen. Bevor die vielen weniger Reichen und die Armen sich von Wirtschaftskrise und linker Kritik zu umstürzlerischen Gedanken treiben lassen, muss die zugrunde liegende und richtige Analyse, nach welcher der Kapitalismus zur Krise führt, durch falsche Schuldzuschreibungen ersetzt werden.

In der Vergangenheit, insbesondere während der Großen Depression der 1930er Jahre, wurde dem einfachen Volk von Groß- und Kleinbürgern erzählt, sein Leiden sei durch eine Verschwörung von Bankiers und Bolschewisten, Juden allesamt, verursacht worden. Weil diese Geschichte auf allzu fruchtbaren Boden fiel und zum volksgemeinschaftlichen Mord an den europäischen Juden geführt hat, hält sich zumindest das Großbürgertum mit anti-jüdischen Ausfällen zurück, um seinen Platz in der liberalen Gesellschaft des Westens nicht zu gefährden. Ökonomisch ist dieser Platz auf den Export von Gütern, Dienstleistungen und Kapital gebaut. Um seine weltweiten Handelsbeziehungen nicht zu gefährden, halten sich die Reichen in Deutschland auch mit ausländerfeindlichen Sprüchen zurück bzw. überlassen es Nazi-Spießern, Ausländer für deutsche Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen.

Das deutsche Besitzbürgertum und seine politischen Verbündeten schimpfen nicht über Ausländer, sondern das angeblich von Faulenzern bewohnte und Verschwendern regierte Ausland. Unter Mittelmeeranrainern, insbesondere Griechenland, sollen diese Untugenden verbreitet sein. Entsprechend schreibt die Wirtschaftspresse, als Folge griechischer Misswirtschaft drohe Athen der Staatsbankrott und dem Euro ein Ansehensverlust in der internationalen Geldgesellschaft. Hierdurch seien deutsche Exporte, die in Euro abgerechnet werden, und damit der seit bald einem Jahr angekündigte, bislang aber ausgebliebene Wirtschaftsaufschwung bedroht. Boulevardzeitungen übersetzen diese anspruchsvolle Sündenbock-Theorie fürs einfache Volk in etwa so: Faule Griechen bedrohen deutsche Arbeitsplätze. Auf diese Weise nähern sich die distinguierten Reichen dann doch noch deutschtümelnden Spießern an.

Faulheit, Arbeit und Exportüberschüsse

Die Theorie, am Mittelmeer würde mehr gefaulenzt als gearbeitet, ist nicht neu in der deutschen Politik. In den 1990er Jahren pöbelte der damalige Finanzminister Theo Waigel gegen den "Club Med": Griechenland, Italien, Spanien und – weil er in Erdkunde schlecht aufgepasst hat – Portugal wurden als Mittelmeeranrainer dargestellt, deren Bewohner nicht in die Europäische Währungsunion passten, weil sie über ihre Verhältnisse leben und immer größere Schulden auftürmen würden, anstatt hart zu arbeiten und von Exportrekord zu Exportrekord zu hetzen. Was er nicht gesagt oder nicht gewusst hat: Die Exportüberschüsse des einen sind die Defizite des anderen. Linke Kritiker der Währungsunion wiesen in den 1990ern immer wieder darauf hin, dass die ärmeren europäischen Länder gegen die Konzerne aus den Exportzentren Deutschlands nicht würden bestehen können und eskalierende Defizite im Außenhandel nur durch Abwertungen vermeiden könnten. Nach Einführung des Euro, dessen Einführung im Club Med Helmut Kohl aus machtpolitischem Kalkül gegen den Willen seines Finanzministers befürwortete, waren Abwertungen nicht mehr möglich. Mehr als je zuvor stützte sich die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland auf Exportüberschüsse und die damit einhergehenden Defizite in anderen europäischen Ländern. Zwei Drittel der deutschen Exporte gehen ins EU-Ausland, nur ein Drittel wird in Nicht-EU-Länder geliefert.

Defizite im Außenhandel gehen notgedrungen mit Kapitalimporten einher: Wenn die Ausfuhren bzw. Ausfuhrerlöse eines Landes nicht ausreichen, um für die gesamten Einfuhren zu bezahlen, muss ein Teil eben durch Auslandskredite oder andere Kapitalimporte finanziert werden. Diese kommen – woher wohl – aus den Exportländern, die Überschüsse sowohl bei den Ausfuhren von Gütern und Dienstleistungen als auch beim Kapitalexport aufweisen. Damit nicht genug: Defizite in Handels- und Kapitalbilanz gehen mit steigender Verschuldung innerhalb eines Landes einher. Irgendwer muss die Schulden ja aufnehmen, mit denen die deutschen Exporte bezahlt werden. Wenn private Haushalte dazu nicht in der Lage, weil sie arm und daher nicht kreditwürdig sind oder nicht auf Kredit angewiesen sind, weil sie mehr Geld haben als sie ausgeben können, wenn darüber hinaus private Unternehmen keinen Kredit brauchen, weil sie unter der Importkonkurrenz ausländischer Konzerne nicht erfolgreich investieren können, bleibt der Staat der einzig mögliche Gläubiger. Genau dies ist Griechenland passiert. Obwohl die Weltwirtschaft, von den prominenten Ausnahmen China und Indien abgesehen, insgesamt in einer Krise ist, behaupten Bundesregierung, Medien und Wirtschaftslenker in Deutschland, Faulheit und Verschwendung hätten Griechenland in eine Krise gestürzt, die nun den Euro und die gesamt europäische Wirtschaft bedrohen. Dabei übersehen sie, dass die Weltwirtschaft insgesamt an Überkapazitäten leidet, die mangels Nachfrage auf absehbare Zeit nicht ausgelastet werden können. Sie verlieren kein Wort darüber, dass deutsche Exporterfolge zu Lasten schwächerer Konkurrenten in anderen Ländern erzielt worden sind und verschweigen wohlweislich, dass Griechenland und andere Mittelmeeranrainer keineswegs die einzigen Länder sind, die von der deutschen Exportmaschine in den letzten Jahren überrollt worden sind. Über Leistungsbilanzdefizite und damit einhergehende Auslandsverschuldung klagen beispielsweise auch französische Unternehmen und Präsident Nicolas Sarkozy. Trotzdem, Frankreich gehört eben mit Deutschland zu den Tonangebern in Europa, versucht Angela Merkel gar nicht erst, Paris jene Sparpolitik aufzuzwingen, die sie in Athen für unausweichlich hält. Im Gegenteil: Sie verständigt sich mit Sarkozy sogar darauf, wie man die Lasten der Wirtschaftskrise auf Griechenland und andere von Auslandsschulden geplagte Länder – oder genauer: auf die lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheiten in diesen Ländern – abwälzen kann. Die Regierungen in Berlin und Paris versuchen auch nicht, den Briten, deren Budgetdefizit 2009 mit -12,1% kaum geringer als das griechische mit -12,9% ausfiel, ein Sparprogramm zu diktieren. Zwar hört man in beiden Hauptstädten gelegentliche Sticheleien über den wild gewordenen Finanzkapitalismus der Angelsachsen, ansonsten wickeln aber auch deutsche und französische Konzerne ihre Finanzgeschäfte gern in London ab.

Im Gegensatz zu Bundesregierung und organisiertem Vermögensbesitz haben die hierzulande von der Sorge um Arbeitsplatz und Sozialversicherung geplagten Menschen nichts mit Frankreich und Britannien zu kungeln und den Griechen nichts vorzuschreiben. Aber vielleicht können sie von Griechenland lernen: Dort hat es bereits eine Reihe von Generalstreiks gegen Entlassungen und Sozialabbau gegeben. Für die Nachfolger Waigels ein weiterer Beleg griechischer Faulheit; für Menschen, die außer einem Arbeitsplatz nichts oder nicht viel zu verlieren haben, möglicherweise ein Weg zur Sicherung der eigenen Existenz und selbstbewusster Ausdruck eigener Interessen gegen die Vorschreiber aus Regierungs- und Chefetagen.

Artikel aus:Göttinger Betriebsexpress Nr. 188 Mittwoch, den 14. April 2010

Zum Anfang