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Regine Wagenknecht / Buchrezension
Göttingen in einem Roman
Verstecktes Göttingen und sehr viel mehr in: "Das Buch Fritze" von Friedmar Apel

In einer "spießigen" Kleinstadt, mit einem Wall zum Spazieren gehen und schrecklichen Lehrern, beginnt in den fünfziger Jahren Fritzes Leidensgeschichte und dorthin treibt es ihn notgedrungen zurück, wenn er wieder einmal auf die Nase gefallen ist. Ein Großteil des Romans "Das Buch Fritze" ist also in der Kleinstadt situiert.
Und das ist Göttingen, leicht zu erkennen an etlichen, wenn auch zum Teil verfremdeten Namen und Ortsbezeichnungen wie zum Beispiel das "Ebental" - das ehemalige Ebertal am Steinsgraben – die "Barackensiedlung, wo die Aussiedler wohnen und die Zigeuner, zwielichtige Elemente, sagt Fritzes Vater". Wer Göttingen in den sechziger Jahren erlebt hat, wird sich auch an zwei Ereignisse erinnern, von denen im Roman erzählt wird: an die Klassenbücher im Schwänchenteich, von Felix-Klein-Schülern nachts hineingeworfen, und an den Lehrer, auch vom Felix-Klein-Gymnasium, der auf zwei Schüler geschossen hatte: "Lehrer Schinke erzählt gern Geschichten aus dem Krieg, und die Stunde ist dann bald zu Ende. Später wird er vom Dienst suspendiert, weil er mit dem Schrotgewehr auf Schüler geschossen hat, die vor seinem Haus revolutionäre Lieder sangen."
In diese spießige Gesellschaft, in der der Geist der Nazizeit noch weiterlebt, wird der kleine Fritze gestoßen, aus seinem "Paradiesgärtchen" bei den Großeltern auf einem kleinen Bauernhof im östlichen katholischen Eichsfeld. In der Schule "zum heiligen Bonifatius" tritt er unter dem Zeichen der Ordnung seinen Leidensweg an: "Ordnung ist das halbe Leben, sagt der Lehrer Pursch. Das soll Fritze wiederholen. Das halbe Leben, sagt Fritze. Ordnung ist, sagt der Lehrer Pursch. Ordnung ist, sagt Fritze und heult." Als einige Jahre später aufgeschlagene Klassenbücher auf dem Schwänchenteich "wie Seerosen" schwimmen, bekommt Fritze seinen ersten "Platzverweis", landet schließlich in der Großstadt Berlin und wird dort von "Höllenengeln" unversehens in die Drogenszene gepresst. Nach allerlei Aufschwüngen und Abstürzen endet er in den neunziger Jahren im Park der Kleinstadt unter den Pennern und möchte sich und Gott sein "verkorkstes Leben" erzählen. Er kann es nicht und übergibt seine zwölf Tagebuchhefte dem Erzähler, der aus dem Sammelsurium von Eintragungen eine zusammenhängende Erzählung macht, die er distanziert, ablehnend, manchmal auch mitfühlend kommentiert.
Die Einführung eines Erzählers ist nicht der einzige Kunstgriff, den der Autor, Literaturwissenschaftler in Bielefeld, angewandt hat. "Das Buch Fritze" stellt sich im Titel wie selbstverständlich neben ein Weisheitsbuch des Alten Testaments, das Buch Hiob, auch eine Leidensgeschichte, auf die es im Roman Verweise gibt wie etwa die Bezeichnung "Höllenengel" für die Drogendealer. Im Buch Hiob ist es der Engel Satan, der Hiob ins Unglück stürzt. Und noch mehr Christliches gibt es: Die Passionsgeschichte wird ins Spiel gebracht. Nicht in Kapitel ist das Buch unterteilt, sondern in zwölf Stationen, die auf den Kreuzweg verweisen, dessen vierzehn Stationen in katholischen Gegenden alljährlich in der Karwoche begangen werden. Dieser hohe christliche Rahmen steht in ironischem Kontrast zu der alltäglichen Leidensgeschichte des Fritze, lässt ein bisschen wahres Erbarmen auf den armen Fritze überfließen; die Ironie greift vor allem das scharf an, was Fritze in seine erbärmliche Lage gebracht hat: den Anspruch der verkommenen christlichen Lehre, sinnvolle Lebensregeln zu setzen. Die starre Frömmigkeit der Spießbürger ebenso wie Fritzes naive Gläubigkeit, die sich in den seinen Heften beigefügten Gebeten und Ablasszetteln dokumentiert, lässt das Bewusstsein verkümmern, erzeugt Unfähigkeit, aus Fehlern zu lernen, und viel Leid.
Fritze lernt nicht aus seinen Fehlern, aber ganz und gar verkümmert ist er nicht. Er hat Witz. Die Titel, so teilt der Erzähler vorsorglich mit, habe er von Fritze übernommen. Fritze hat den Bezug zur Passionsgeschichte für sich selbst hergestellt und ihn gleichzeitig ironisiert. In jeder von Fritzes zwölf "Stationen" ist eine Anspielung auf die entsprechende Station des Kreuzweges versteckt, zum Teil verquer, manchmal traurig, oft sehr komisch. Ein Beispiel nur: In der sechsten Station des Kreuzweges reicht Veronika dem sein Kreuz tragenden Christus ihr Schweißtuch. In Fritzes sechster "Station" liegt bei einer Veronika in Berlin "ein großer Stapel weißer Handtücher" bereit und die Veronika wäscht den Fritze gründlich ab, bevor sie sagt, "komm rein". Aufgrund der sorgfältig angelegten Struktur des Romans ist anzunehmen, dass sich der Autor mit diesem Versteckspiel nicht nur einen privaten Spaß gemacht hat, sondern damit einen liebenswerten Charakterzug seiner Hauptfigur verstärken wollte – den, über sich selbst lachen zu können.
Lachen und traurig sein über die Geschichte eines "verkorksten Lebens" werden auch Göttinger Leserinnen und Leser (die bald zuhauf lesend auf Parkbänken am Schwänchenteich zu finden sein werden), und manch eine/einen wird "Das Buch Fritze" nach der ersten Lektüre nicht gleich loslassen.

Friedmar Apel: Das Buch Fritze, suhrkamp taschenbuch, Frankfurt am Main 2003, 177 Seiten, 7,00 Euro.

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