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Literarisches Zentrum: Rosemarie Tietze

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Erste Veranstaltung im neuen Programm

Im März begann das Neue Programm des Literarischen Zentrums, das nun die Handschrift der neuen Leiterin Johannsen trug. Ankündigungstext des Literarischen Zentrums für die Veranstaltung am 7.3.11 "Es gibt Werke der Weltliteratur, die nicht nur für eine Epoche stehen, sondern uns Leser durch alle Zeiten hindurch in ihren Bann ziehen. Anna Karenina von Lew Tolstoi ist eines davon. Aber auch zeitlose Klassiker bedürfen zuweilen der Wiederbelebung. Eine solche ist Rosemarie Tietze fraglos gelungen mit ihrer Neuübersetzung (Hanser 2009), für die sie 2010 mit einem der wichtigsten Übersetzerpreise, dem Paul-Celan-Preis, ausgezeichnet wurde. Mit Kunstfertigkeit und Einfühlungsvermögen ist sie Tolstois immensem Sprachreichtum ein entscheidendes Stück näher gekommen. »Eine wunderbare Neuübersetzung«, schreibt die FAS, »1200 Seiten, die sich lesen wie Butter.«

 

Rosemarie Tietze hat Tolstois "Anna Karenina" neu übersetzt

Es gibt keine Aufeinanderfolge von verbesserten Übersetzungen bis zur "idealen Übersetzung"

Warum, so wird sich mancher fragen, sei noch eine weiter Übersetzung nötig, wo es doch schon 20 Übersetzungen gibt? Diese Frage rührt von der falschen Vorstellung, dass bei jeder neuen Übersetzung eine Verbesserung stattfände, bis schließlich am Ende die ideale Übersetzung herauskäme. Aber um die Qualität einer Übersetzung zu beurteilen sei es nicht hilfreich zu fragen, ob vorherige Übersetzungen schlechter waren, das ist nicht die Frage. Es geht nicht um eine Verbesserung vorhergehender Übersetzungen. Auch die Veränderung der Sprache über die Zeit hinweg ist nicht der Anlass dafür, eine neue Übersetzung vorzunehmen, so stark hat die Sprache sich nicht verändert. Was sich verändert hat, sind die Übersetzungsstrategien! Der Hauptunterschied einer weiteren Übersetzung zu den vorherigen ist, dass die jetzige aus heutiger Sicht erfolgt ist und dass eine Übersetzungsstrategie angewandt wurde, die es bisher nicht gab.

Foto:
Rosemarie Tietze im Literarischen Zentrum am 7.3.2011

 

 

Rosemarie Tietzes Übersetzung von Lew Tolstois "Anna Karenina" ist im Hanser-Verlag erschienen (1284 Seiten, 39,90 Euro).

Aus diesem Grund lässt sich auch nach 20 Übersetzungen bei Tolstoi immer noch etwas neues finden, das die Mühe wert ist, an der Übersetzung etwas zu anders als bisher zu machen. Auch in vorherigen Gesprächen hat Rosemarie Tietze schon den Vergleich gebracht, den sie im Anschluß an diese Bemerkung bringt: es ist wie ein klassisches Musikstück, das von verschiedenen Instrumentalisten gespielt und dabei unterschiedlich interpretiert wird. Die Noten bleiben gleich und dennoch klingt es manchmal völlig anders.

Dennoch: die Wahl der Vorlage entscheidet über Vermeidung von Fehlern

Eine allererste Frage bei der Übersetzung ist: Welche Fassungen des Originals gibt es und welche Fassung soll übersetzt werden? Eine Verbesserung dürfte daher sein, dass mit der Übersetzung Tietzes erstmalig"eine ganze Reihe von Abschreibfehlern und Auslassungen berichtigt sind, die in russischen Ausgaben lange Zeit mitgeschleppt wurden.." (Anhang S. 1231) . Bei der ausgewählten Vorlage waren viele Änderungen gegenüber anderen Fassungen zu verzeichnen gewesen. Für das Verständnis des Textes ist z.B. entscheidend, dass auf S. 9 zu lesen ist: "Er konnte jetzt nicht bereuen, was er vor sechs Jahren einst bereut hatte, als er die erste Untreue an seiner Frau beging." Diese Tatsache, dass er vorher schon fremd gegangen ist, bevor er eine Liason mit der Gouvernante einging- dieser Hinweis fehlt in den anderen Übersetzungen - aber erst dadurch wird der tiefgehende Verlust an Glaubwürdigkeit auf Seiten seiner Frau verständlicher. In der Übersetzung von Fred Ottow (der bislang verbreitetsten Ausgabe) fehlt dieser Hinweis vollständig.

Bei gleichem Inhalt durch Mikrostilistik ein verändertes Buch

Tietze wählte als Beleg für Tolstois Erzählkunst u.a. folgende Textstelle aus dem Ersten Teil des Kapitel XXII,, die wir einmal mit einer anderen Übersetzung verglichen haben:

Tietze:
"Obgleich die Toilette, die Frisur und alle Ballvorbereitungen Kitty viel Mühe und Überlegung gekostet hatten, betrat sie in ihrer raffinierten Tüllrobe mit rosa Unterkleid den Ball nun so frei und schlicht, wie wenn diese ganzen Rosetten, Spitze und alle Details der Toilette sie und ihre Hausangehörigen keine Minute Aufmerksamkeit gekostet hätten, wie wenn sie in diesem Tüll, den Spitzen,mit dieser Hochfrisur samt Rose und zwei Blättern obendran zur Welt gekommen wäre." (S. 120)

Ottow:
"Obgleich das rosa Abendkleid, die Frisur und alle überigen Ballvorbereitungen Kitty viel Überlegung und Mühe gekostet hatten, erschien sie jetzt in ihrer kunsvoll auf einem rosa Unterkleide gearbeiteten Toilette so frei und ungezwungen im Saal, als hätten alle diese kleinen Rosetten, Spitzen und sonstigen Einzelheiten ihre und ihrer Hausgenossen Aufmerksamkeiten keinen AUgenblick in Anspruch genommen, ja als wäre sie schon in Tüll, Spitzem und jener hochtoupierten, mit einer Rose und zwei Blättern gekrönten Frisur zur Welt gekommen." ( S. 97)

Vergleicht man die Passagen, so denkt man zunächst: "grundsätzlich sind doch alle erzählerische Informationen hier wie dort enthalten". Gleichzeitig wirkt Tietzes Übersetzung aber auf unerklärliche Weise geschmeidiger. Der Grund dafür lässt sich erst finden, würde man die von Tietze diskutierte Ebene der Mikrostilistik in die Betrachtung einbeziehen. Der wesentliche Inhalt der Übersetzungen ist gleich, wenn auch einige Schlüsselinformationen durch die neue sorgfältige Übersetzung hinzugekommen sind, rein erzählerisch sind sie weitgehend gleich. Neben der Rekonstruktion der Mikrostilistik Tolstois, der Beachtung des Rythmus sind es manchmal aberu auch nur Feinheiten bei der Verwendung einzelner Begriffe: wenn die Hand eines Buben in der Übersetzung von Ottow (S.84 dtv Ausgabe) als "feistes Händchen" in der Übersetzung von Tietze S. 104 als "pummeliges Händchen" beschrieben wird.

Vielleicht lassen sich die Unterschiede folgendermaßen bildhaft vergleichen: in der älteren Übersetzung bewegt man sich auf einem harten Weg der Übersetzung durch eine wunderbare Landschaft des Inhaltes, wobei die Wahrnehmung der Landschaft durch die Härte des Weges manchmal gestört wird. In der neueren Übersetzung spürt man den Weg kaum und bewegt sich gleitend durch die Landschaft. Ähnlich hat es die FAZ (Sonntagszeitung) ausgedrückt: 1200 Seiten, "die sich wie Butter lesen."

Wiederholungen sind ein Grundzug Tolstois Prosa. In anderen Übersetzungen wurden sie als versehentlich schlechter Stil weggelassen.

In anderen Übersetzungen haben sie die Wiederholungen weggelassen, weil sie wohl der Meinung waren, das sei schlechter Stil - so wie man es eben in der Schule lernt. Aber Wiederholungen haben bei Tolstoi etwas prinzipielles. Die Übersetzungen haben alle diese Wiederholungen weggelassen
Z.B. folgende Übersetzungen: 1913 Röhl, 1952 Götz, 1955 (bzw. 1078 als Taschenbuch) Fred Ottow (wohl die verbreitetste), 1956, 1966 sind an sich richtig, aber die Gestaltung hat etwas weggelassen, was Tolstoi untergebracht hatte: Rythmus durch die Wiederholungen. Tolstois Roman, so Tietze weise eine sehr "moderne Satzstruktur" auf (mit Verweis auf Teil 2 Kapitel IX, S. 404) und man möge sich auch kurz an "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" erinnern.

Tietze wies auf eine Stelle gegen Ende des Buches hin bei der Anna Karenina ihrem Mann glaubte alles gesagt zu haben davon ausging, nun könne nun alles in Ordnung kommen. An dieser Stelle gebraucht Tolstoi auf kurzer Textstrecke 12 mal das Wort "sagen".
Tietze: "Ich rede mit dem Autor, den ich übersetze und da habe ich ihn gefragt: muß das wirklich sein?" Ja es mußte wohl sein, denn dieses 12malige wiederholen des Wortes "sagen" bildet gleichsam Gitterstäbe eines Käfigs von Widersprüchen in denen Anna Karenina gefangen ist.

Ein anderes Beispiel (nicht bei der Lesung erwähnt) findet sich auf Auf S. 111. Anna: "Doch ich kann es, ich kann es, Ja ich würde ihm verzeihen. Ich wäre nicht mehr dieselbe, ja, doch verzeihen würde ich ihm, so verzeihen, als wäre es nicht gewesen, gar nicht gewesen."
Tolstoi setzte die Wiederholungen auch für Komik und Satire ein. Im Teil 8 , S. 1155 "Trotz seiner absoluten Verachtung gegenüber dem Verfasser machte sich Sergejew Iwanotwitsch mit absoluter Hochachtung an die Lektüre des Artikels. Der Artikel war schrecklich."


Rosemarie Tietze las mehrfach auch die Originalstellen
in russischer Sprache

Übersetzungsstrategie

Bei der Übersetzung muß man in die "Sprachwelt des Autors eintauchen". Bei dem Versuch sich die Zeit vorzustellen, die Lebenswelt vorzustellen - hat die Lektüre von Fontane geholfen, weil er über eben diese Zeit schreibt in der Tolstoi geschrieben hatte. Z.B. wurde aufgrund der Lektüre Fontanes deutlich, welche Bedeutung damals das Wort "reizend" hatte; es war geradezu ein Modewort gewesen. Besonders hilfreich waren die Ehebriefwechsel Fontanes, weil Fontanes Ehefrau Emilie so schrieb wie sie redete. Man kann sich beim Lesen ihrer Briefe sehr gut bildlich vorstellen wie sie da steht und redet. D.h. in ihren Briefen ist Alltagssprache eingeflossen. Und Tolstoi verwendet Umgangssprache.

Es entstand z.B. die Frage, wie nennt man die Mahlzeit, die um 17 Uhr eingenommen wird. Mittagessen kann man das schlecht nennen. Auch hier half Fontane bei der Begriffsfindung, es wurde zum "Diner". Ebenso hilfreich seien die Schriften von Vladimir Nabokov gewesen. Während Ottow in seiner Übersetzung "große Dame" schreibt, benutzt Tietze auf S. 105 ganz gemäß dem damaligen Sprachgebrauch "grande dame". Sie kann sich dabei auf eine besondere Schreibweise Tolstois bei solchen Ausdrücken beziehen. Dieser Ausdruck in französischer Sprache ist in lateinischen Buchstaben und nicht kyrillisch geschrieben.

Zum Eintauchen in die Welt des Autors gehörten auch Gespräche mit Bauern und schließlich mit Jägern, denen sie im Nachwort besonderen Dank ausspricht. Zwecks Beschreibung der Schnepfenjagd wurde mit Jägern z.B. die Frage erörtert , wie das Rufen der Schnepfen bezeichnet wird. Jäger fanden die Angabe im Tierlexikon ("murksen") abwegig weil klar sei, dass Schnepfen "quorren" oder "knorren". Und dies sei dann auch lautmalerisch nahezu identisch gewesen mit dem russischen Wort, das Tolstoi verwendet habe

Ein Problem war die Angabe des Ortes, wo Wronski die Leiche von Anna vorfand. Wörtlich übersetzt führt Tolstois Text zu der Aussage "auf dem Tisch in der Kaserne der Bahnstation". Das machte nicht wirklich Sinn, aber der Hinweis, dass damals das Wort, das mit Kaserne übersetzt wurde auch ein Ausdruck für die ärmlichen Unterkünfte der Eisenbahnarbeiter gewesen ist erhellte schlagartig die Zusammenhänge. Es war also keine unwesentliche Übersetzungsarbeit gewesen, hier nachzubohren. Denn Anna hatte immer wieder Alpträume von Arbeitern, die über Eisen gebeugt arbeiten - eben Eisenbahnarbeitern. Auch im letzten Alptraum Annas nach einem Streit mit Wronski und in einer schweren psychischen Krise, nach Einnahme von Opium und Gedanken an Selbstmord träumte sie wieder von dem Männchen, das über Eisen gebeugt irgend etwas Grauenhaftes macht.

Die zusätzliche Bedeutung des Wortes "Kaserne" herauszufinden gelang, weil, so Tietze, der Text "durch die Übersetzerlupe betrachtet" wurde.

Tietze übersetzt Prosa wie andere Lyrik übersetzen

"Ich kann nicht nur Worte übersetzen" .. "Ich muß das schon spüren" sagt sie, daher beschäftigt sich Tietze auch mit den materiellen Gegebenheiten innerhalb deren die Beschreibungen des Autors spielen. Z.B. war ihr zunächst nicht klar, wie sich die Anna Karenina und Wronski im Zug begegnet waren. Erst als sie ein Bild der Eisenbahnzüge sah, konnte sie sich sofort vorstellen, wie man sich dort beim Aneinandervorbeigehen begegnet.

"Ich stehe anderen Übersetzungen nicht gegenüber und sage: alles schlecht" sondern es ist eben ein neuer Zugang. Ich frage, wie sind die Sätze gemacht, was ist die Mikrostilistik. Und diese Mikrostilistik muß dann irgendwie nachgebaut werden in der anderen Sprache. Die anderen Übersetzungen haben sich einen Satz genommen und den Inhalt "nacherzählt." Tietze hatte in einem kurzen Gespräch nach der Lesung nichts gegen den Begriff "hermeneutische Übersetzung" als Bezeichnung für ihren Übersetzungsstil einzuwenden, weil sie nach einem inneren Verständnis des Textes als Grundlage für dessen Übersetzung sucht. Vermutlich wäre das schönste Kompliment für die Übersetzerin, wenn man den Eindruck gewönne, dass am Ende eine Übersetzung entstand, die so ähnlich aussieht wie sie ausgesehen hätte, wenn Tolstoi in deutsch geschrieben hätte.

Die Anstrengung die mit derlei Arbeit verbunden ist wurde In einer Sendung des Bayrischen Rundfunks am vom 23.6.2010, deutlich . Hier gab Rosemarie Tietze eine Erklärung für die Erschöpfung, die sie als Übersetzerin bisweilen ereilt: "Wenn man Text gestaltet und nicht einfach nur Wörter hinschreibt, dann holt man die innere Gestalt dieses Textes, die Satzform, den Rhythmus, die Melodie aus seinem ganzen Körper heraus und legt das in das gestaltete, deutsche Werk."


Rosemarie Tietze nach gelungener Veranstaltung
im Literarischen Zentrum Göttingen