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John von Düffel

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Der Dramaturg und Schriftsteller John von Düffel war auf Einladung des Seminars für Deutsche Philologie und des Literarischen Zentrums Göttingen zu Gast an der Universität. Am 1. und 2. Dezember 2010 hielt er in der Aula am Wilhelmsplatz die Vorträge "Die dramatische Lesart der Welt" und "Die epische Lesart der Welt" ("die diesjährigen Göttinger Poetikvorlesungen"). Am 2.12.10 hielt er noch eine Lesung in einer Schule und diskutierte mit Göttinger Studierenden.

Romane: Vom Wasser (1998), Zeit des Verschwindens (2000), Ego (2001), Wasser und andere Welten. Geschichten vom Schwimmen und vom Schreiben (2002), Houweland (2004) Die Entstehung dieses Romans wurde filmisch dokumentiert: Jörg Adolphs Dokumentarfilm "Houwelandt – Ein Roman entsteht über John von Düffel", Hotel Angst (2006)

Theater: Schauspieldramaturg am Thalia Theater Hamburg, z.B. 2005 mit einer Bühnenfassung der Buddenbrooks. Seit 2009 arbeitet er am Deutschen Theater Berlin u.a. Dramatisierung von "Der Turm".

http://www.johnvondueffel.de/

Foto: 1.12.10 Aula Uni Göttingen

 

John von Düffel erklärt wie Theater funktioniert
Veranstaltungsbericht / Günter Schäfer

Vortrag 1.12.10 Die dramatische Lesart der Welt
Sinngemäße Wiedergabe auf der Grundlage von Notizen. Wörtliche Zitate sind gekennzeichnet

John von Düffel spricht vom Theater. Theater ist eine Besonderheit im Hier und Jetzt, keine Vorstellung gleicht der anderen. Das Hier und Jetzt definiert immer die Besonderheit. Theater ist Erfahrung.

Wir glauben heutzutage alles wissen zu können, weil uns Computer und Internet die Welt der Information zugänglich macht, aber während wir vor dem Computer sitzen, machen wir keine sinnlichen Erfahrungen; wir sitzen nur mit einem Gerät in einem Raum. Obgleich wir immer mehr zu wissen glauben, machen wir immer weniger Erfahrungen.

Wie können Erfahrungen im Theater gemacht werden? Der Theaterraum ist eine spezielle Situation. Der Zuschauer kann nicht so ohne weiteres weglaufen, eingeengt in seiner Bewegungsfreiheit, vielleicht auch eingeengt in seinem Sitz, verweilt längere Zeit mit anderen Zuschauern im Raum.

Wenn der Zuschauer dies trotzdem aushält, dann dadurch, dass er seine ganze Aufmerksamkeit dem Geschehen auf der Bühne widmet. Wenn diese Aufmerksamkeit abreisst, dann macht sich das - so Düffel - durch Husten bemerkbar. Er habe das so oft beobachtet, dass dann plötzlich viele Leute erst wieder ihre körperliche Existenz wahrnehmen, wenn die Aufmerksamkeitsanspannung abreisst und dann husten sie. Die Zuschauer werden sich ihrer Körper und einer unbequemen Haltung auf dem Stuhl bewußt. Sie fangen an sich zu räkeln und wenn man einen Theatersaal von oben beobachtet, dann sieht man geradezu Wellen der Bewegung durch die Sitzreihen im Zuschauerraum gehen.
Wie also kann die Aufmerksamkeitsspannung im Theater erzeugt und erhalten werden? Hier gilt zunächst die klassische Unterscheidung von "Was-Spannung" und "Wie-Spannung". Beim "Was" fragt sich der Zuschauer, was wohl passieren wird und sobald deutlich wird, worauf die Handlung hinauslaufen könnte , entsteht die Frage "Wie" das wohl passieren wird - und erzeugt die "Wie"-Spannung.

Gefahr, das heimliche Thema aller Theaterstücke

Spannung wird durch Gefahr gehalten. Gefahr erzeugt Gegenwärtigkeit, schärft die Sinne. Wer schwarzfährt, beobachtet Fahrgäste genauer daraufhin, ob sie vielleicht Kontrolleure sein könnten. Diese geschärfte Wahrnehmung wird auch erzeugt, wenn ein Theaterstück Bedrohung spüren lässt. Im Gefahrenmoment dehnt sich die Zeit, wir nehmen in kürzerer Zeit mehr wahr als sonst.

Welche Gefahren sind es, deren Darstellung im Theater Spannung erzeugen? Die Gefährdung, die zu erahnen ist, wenn man eine beliebige Situation betrachtet. Unsere Welt ist zerbrechlich, wir wandeln auf dünnem Eis. Unsere Existenz ist leicht erschütterbar durch Tod, durch Verlust materieller Sicherheit, des Arbeitsplatzes, der Beziehung. Unsere Existenz ist prekär. Nicht nur die Darstellung äußerer Gefahr erreicht die Herstellung von Spannung. Dies erläuterte von Düffel am Beispiel Ödipus. Ödipus hat ohne zu wissen seinen Vater erschlagen und mit seiner Mutter Kinder gezeugt. Das Schlimmste war schon passiert, das äußere Geschehen ist schon Geschichte. Die Gefahr, die im Theaterstück die Spannung erzeugt ist nun die "Innere Gefahr". Ödipus Suche nach der Wahrheit gefährdet sein Inneres und wird ihn in dem Moment zerstören, wenn er die Wahrheit erfährt. Von diesen Konflikten und deren Entwicklung lebt die Tragödie. Die Personen erscheinen zunächst mit einer gewissen Hybris, einer Überheblichkeit, die gleichzeitig die Fallhöhe erahnen lassen und die Gefahr des Absturzes vor Augen führen.

Nicht jeder Konflikt ist theatertauglich. Der Konflikt muß beweglich sein, eine Entwicklung mit unerwarteten Wendungen ermöglichen, unberechenbar sein. Nimmt man z.B. den Konflikt zwischen einem Vater und dessen Sohn, in dem der Sohn immerzu nur der Verlierer und Schwächere ist, dann kann keine Spannung erzeugt werden, weil alles immer schon bekannt ist. Man nimmt also eine Situation und dann geht es um die Ahnung und Erwartung einer Richtung, die ein Charakter nimmt. Die Richtung, die das nimmt, sollte sich ändern, Erwartung enttäuscht werden damit dann eine neue Erwartung aufgebaut werden kann.. Die Spannung bleibt erhalten. Ein gelungener Theaterabend erklärt nicht nur, sondern lässt Erfahrung machen, nimmt auf eine Reise mit.

Drama-Verstösse

Zwei "legitime Verstösse" der Dramaturgie sind a) die Mauerschau und b) der Botenbericht. Bei der Mauerschau steht jemand z.B. auf der Mauer und berichtet dem Feldherrn, dass er z.B. in der Ferne die Schlacht sieht. Der Zuschauer aber fragt sich dann "Ja gut der erzählt da was, aber warum wird es mir nicht selbst gezeigt?" Die Einheit von Ort, Zeit und Handlung die konstitutiv für Theater ist wird dadurch aufgerissen. Auf die Mauerschau zu verzichten, ist aber manchmal einfach nicht machbar. Wenn der Mauerschauende ruft: Da kommen Hannibals Elefanten über die Berge ... also das auf der Bühne zu verwirklichen, dürfte erhebliche Probleme bereiten. Für den Botenbericht gilt ähnliches: Der Botenbericht erzählt, was geschehen ist. Um die Szene dann noch interessant zu gestalten bricht der Bote dann meist ein paar mal zusammen wird angeschrien, aufgefordert in seinem Bericht fortzufahren aber letztenendes ist der Zuschauer enttäuscht, weil er nur einen Bericht hört, aber nichts erlebt. Der Zuschauer fragt sich bei beiden Verstössen, warum darf ich nicht das HIER und JETZT erfahren von dem was da erzählt wird.

Situation vs. Charakter

Die Dramatisierung schafft Situationen und aus den Situationen ergibt sich das Handeln der Charaktere. So denken die Dramaturgen die den Situations-Ansatz vertreten zu dem sich auch Düffel bekennt. (Was mich übrigens an Harold Pinter erinnert, der sich eine Situation vorstellt und dann folgert, was daraus entstehen kann - Z.B. Der Hausmeister / G.Sch) . Diejenigen, die den Charakteransatz wählen gehen davon aus, dass ein Charakter das Handlungspotential hat, und mit dem Zusammentreffen einer Situation entsteht dann die aktuelle Handlung.

Ferdinand von Schirach, der seine Erfahrungen als Anwalt literarisch in dem Buch "Verbrechen" verarbeitet hat, sagt "Die Situation gebirt das Verbrechen", zitiert ihn Düffel. Daraufhin meint er, er selbst wisse z.B. auch nicht, wie er reagieren würde, wenn seine Angehörigen einer Bedrohung ausgesetzt seien. Diese Situation habe er noch nie erlebt. Das Handlungspotential, die Handlungsrichtung eines Charakters offenbare sich aber erst in der jeweiligen (Gefahren-)Situation.

Gebrauchsanweisung

Die erste Theatererfahrung von SchülerInnen ist meist die eines Reclamheftes. Aber Theater findet nicht beim Lesen statt, wird nicht im Sessel zuhause erfahrbar. Theater findet statt, wenn Erfahrung gemacht wird. Wie dies zu geschehen habe, das vermittelt das Drama, dessen "ontologischer Status" (einfacher gesagt, dessen eigentliches Wesen) der einer "Gebrauchsanweisung" ist. Die Frage ist eben, ob es gelingt, mit einem Theaterstück eine Erfahrung zu erzeugen bzw. etwas zu erzeugen, das Erfahrung auslöst.

Es gibt neuerdings das sogenannte "post-dramatische Theater", das sind Stücke, "die frei im Raum schweben können", es sind Stücke ohne Gebrauchsanweisung. Diese Entwürfe enthalten keine Dramatisierung. Insofern sind es keine genuinen Theaterstücke. Jelineks Theater z.B. stellt "Textflächen" bereit, die beliebig verschoben werden können, die für sich stehen . Aber für eine Theateraufführung müssen sich Dramaturgen überlegen, wie sie im Hier und Jetzt des Theaters als Erfahrungsraum das Stück präsentieren. Insofern leisten dann die Regisseure die dramatische Arbeit. Es gibt also keine Aufführung eines post-dramatischen Theaters, sondern es gibt nur eine andere Arbeitsteilung zwischen Autor und Dramaturg.

Ein gelungener Theaterabend erklärt nicht nur, sondern lässt Erfahrung machen, nimmt auf eine Reise mit. Das geht auch mit einem Roman - der epischen Lesart der Welt. (Verweis auf den Vortrag am nächsten Tag)

Die epische Lesart der Welt 2.12.10

Wissen und Information steht in der heutigen Welt in großem Umfang zur Verfügung. Die Erfahrungsarmut der Vermittlungwege PC , Fernsehen etc. muß durch eine Emotionalisierung der Inhalte kompensiert werden. Damit Informationen über die Medien an den Mann / die Frau zu bringen sind werden sie in den Sensationsmedien "emotionalisiert"

Im Unterschied zu "Sensationsmedien" ist die Frage, wie "Erfahrungen" gemacht werden können. Erfahrungen haben verändernde Kraft, "rein journalistisch erzeugte Erregungen verpuffen nur". Ästhetische Erfahrungen haben verändernde Kraft. In der deutschen Sprache heisst es passend "Erfahrung machen" im Unterschied zum Englischen "to have an experience".

Es geht im Roman nicht darum, einen Traum zu bewältigen, nicht Erfahrung zu verarbeiten, sondern Erfahrung zu machen. Der Autor muß nicht die Erfahrung gemacht haben, es geht nur darum, dass der Leser eine Erfahrung während des Lesens macht. Das Medium des Theaters ist der Schauspieler, die erfahrungsgenerierende Kraft des Romans ist die Sprache, Romane sind Spracherfahrungen. Die Erfahrungskraft von Romanen öffnet die Augen. Mit der Sprache des Romans geht man durch die Welt mit geweiteten Sinnen, nimmt die Welt zumindest eine Weile in der Sprache des Romans wahr. Der Roman macht eine Erfahrungstür auf. Wittgenstein schreibt: "Die Grenzen meiner Sprache sind dei Grenzen meiner Welt" und der Roman will die Grenzen dieser Welt unter dem Einsatz von Sprache verschieben.

Im Vergleich zum Theater entfernt sich der Roman aus dem Hier und Jetzt des Theaters. Durch den Roman, so Düffel, konnte er aus dem Hier und Jetzt des Theaters heraustreten; dies habe er als Befreiung empfunden. Plötzlich sei das Erzählen in Zeiträumen möglich gewesen: "Ich verfügte nun über die Zeit". Der Autor eines Romans ist damit autonom, aber auch extrem einsam. So wie das geheime Thema des Theaters die Gefahr ist , ist das geheime Thema der Romane die Zeit. Ich kann die Zeit anhalten und ausdehnen - kleine Zeiträume detailliert ausfüllen, große Zeiträume überspringen. Düffel erinnerte an >>Marcel Proust "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" und an den Roman "Herz der Finsternis", von >>Joseph Conrad . Conrad habe starke Zweifel gehabt, ob das Lebensgefühl einer bestimmten Zeit tatsächlich zu vermitteln sei. Aber er, von Düffel, habe eine gute Nachricht für Conrad: Es ist möglich, die Einsamkeit des Traumens eines Romanciers zu durchbrechen und es mittzuteilen.

Düffel erzählt vom Bruch in seiner Biografie. Er ist zunächst aus dem Theater gekommen, dann beim Roman gelandet und dann wieder beim Theater : These, Antithese, Synthese. Er habe begriffen, dass die Sache mit dem Wasser z.B. nicht im Theater zu machen sei. Es könne nur episch gemacht werden.

Und dann werden aus Romanen Theaterstücke:

1996 bis 2006 schrieb er nur noch Romane, später kehrt er zum Theater zurück und dramatisiert u.a. die Buddenbrocks für das Thaliatehater. Er konzentriert sich auf die Person des Thomas Buddenbrock, weil er in im die Quintessenz eines Niedergangs der Buddenbrocks findet. Die Umstezung des Romans in Theater erfordert diese Konzentration. Thomas Buddenbrock ist Opfer des Versuchs, die Familientradition fortzusetzen, aber dessen Sohn wird nicht den selben Drill und die die selbe Abrichtung hinnehmen. Thomas B. erleidet die "Tragödie der Affirmation" in einem Prozess von Drill und Abtötung des Lebendigen. Bei dem krampfhaften Versuch auch seinem Sohn diese Affirmation aufzuzwingen scheitert er und bricht daran zusammen. Dennoch versucht er den Schein zu wahren, was so weit geht, dass er zum Schauspieler innerhalb der Familie wird, sich Makeup auflegt bevor er zu Tisch kommt. Die Ironie im Roman der Buddenbrocks bei Thomas Mann war ein Selbstschutz gegenüber der Tragödie. V. Düffel kondensiert den umfangreichen Roman auf die Gefahr des Zusammenbruchs und überträgt dies in ein Theaterstück.

Inzwischen arbeitet Düffel auch an einer Dramatisierung von "Der Turm". In einer Pressemeldung hieß es , von Düffel "dampfe den Roman der Turm für das Theater ein".

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