Goettinger Stadtinfo
 Texte und Bilder
© Impressum

Göttinger Betriebsexpress e.V. (GBE)

Buchladen Rote Straße, Nikolaikirchhof 7, 37073 Gö, Abonnements: 65 DM pro Jahr  auf Konto GBE 11060787
bei  Spk Göttingen, BLZ 260.500.01, 

> Mehr Infos zum Göttinger Betriebsexpress in Goest

gbe.JPG (10217 Byte)

Göttinger Betriebsexpress Nr. 182 (Ausgabe vom 20 Juni 2007)
Uni-Klinikum

Telekomstreik
Wechsel im Universitäts-Personalrat !
Tarifrunde 2007
Mahr
Ilse Möbelwerke
Rente mit 67
ALG II-Schikanen
Isco
Linkspartei
Zwangsarbeit - Zeitzeugen

 

Uni-Klinikum

Sanierer streicht die Segel

Wie bereits im letzten GBE berichtet, schreibt das Klinikum mal wieder rote Zahlen; auf 10 bis 12 Millionen Euro wurde vom Vorstand Anfang des Jahres das Defizit aus 2006 veranschlagt. Und natürlich war auch sofort ein Schuldiger gefunden – die Belegschaft nämlich: der (von Arbeitgeberseite unnötig in die Länge gezogene) Streik im vergangenen Jahr habe das Klinikum über sechs Millionen gekostet, weitere 5 Millionen der Tarifabschluss. Was lag also näher, als das Verursacherprinzip anzuwenden und die Beschäftigten für die Schulden ihres Arbeitgebers geradestehen zu lassen? Kurzerhand begann der Vorstand schon im Dezember 2006 mit (vor-)lauten Überlegungen über die Anwendung des im letzten Jahr abgeschlossenen Absenkungstarifvertrages, schönfärberisch "TV Zukunftssicherung" (ZUSI) genannt, und plante die gewünschte Ersparnis von 16 Millionen bereits fest im Haushaltsentwurf 2007 ein. Ein offizielles Verhandlungsbegehren an ver.di gab es allerdings nicht.

Gewerkschaft und Personalrat beschlossen, hierüber zumindest erst mal mit dem Arbeitgeber zu verhandeln. Sie bildeten eine Arbeitsgruppe ZUSI, die auf zwei Vertrauensleuteversammlungen Anfang des Jahres versuchte, die Belegschaft von ihrer Verhandlungsstrategie zu überzeugen: bei "erfolgreichem" Abschluss, der freiwillige Gehaltskürzungen und betriebliche Einlagen der Beschäftigten von bis zu 10 % vorsah, seien dem Arbeitgeber immerhin Ausgründungen und betriebsbedingte Kündigungen untersagt.

Keine Atempause

Viele KollegInnen konnten das aber nicht nachvollziehen, sondern reagierten eher empört: kurz nach dem in monatelangem Streik erkämpften Ergebnis sollten sie so drastische Einbußen hinnehmen? Hinzu kommt das bekannte Problem, dass ca. 40 Prozent aller Beschäftigten im Klinikum nur befristet beschäftigt sind, meist mit Arbeitsverträgen von nur wenigen Monaten Dauer. Sie müssen nicht gekündigt werden, wenn der Arbeitgeber sie loswerden will; es reicht, ihre Verträge nicht zu verlängern.

Auf einer Mitgliederversammlung im März war sich die aufgebrachte Basis einig, dass man nicht im vergangenen Jahr 14 Wochen gegen den Lohnraub durch die Arbeitgeber gestreikt habe, um hinterher über den ZUSI den Streikerfolg freiwillig wieder preiszugeben.

Zeitgleich hatte sich aber auch auf Arbeitgeberseite das Thema ZUSI erledigt, denn im Vorstand hatte es einen Wechsel gegeben: das Ressort Wirtschaftsführung übernahm ab März ein Herr Conrad, bis dahin Geschäftsführer der (privatisierten) Unikliniken Marburg und Gießen. Seinen Ruf als Sanierer hatte Herr Conrad sich erworben, indem er die angeblich so defizitären Kliniken Marburg/Gießen für den Rhön-Konzern in die Profitzone führte – vor allem durch Arbeitsverdichtung und massiven Personalabbau. Und mit dem gleichen Modell trat er nun in Göttingen an: Bereits in seiner ersten Woche im Amt hatte Herr Conrad messerscharf erkannt, was das Problem im Uniklinikum ist: der "Personalüberhang" in einer Höhe von 15 Prozent. Hier bestehe dringender Handlungsbedarf. Allerdings, so schickte er gleich beschwichtigend hinterher, wolle er nicht mit dem Rasenmäher durchgehen, einige Bereiche seien eben überbesetzt, im ärztlichen und pflegerischen Bereich dagegen lasse sich kaum Personal einsparen.

Anständige oder ausreichende Versorgung?

Während daher die kurz darauf folgende Ankündigung des Vorstandes, bis Ende 2008 insgesamt 600 Stellen abzubauen, vielen Beschäftigten schlaflose Nächte bereitete, nahmen andere das Ganze gelassen hin, weil sie sich unersetzbar und unentbehrlich glaubten. Selig wurden sie aber trotzdem nicht: Auf einer im April kurzfristig angesetzten Besprechung wurden den Stationsleitungen die Pläne des Vorstands für die Pflege mitgeteilt, wonach bis Juli die Verträge von 115 befristet beschäftigten KollegInnen nicht mehr verlängert würden. Die Regelbesetzung auf den Normalstationen solle dementsprechend auf zwei examinierte Kräfte pro Schicht reduziert werden, was in etwa der Notdienstbesetzung während des Streiks entspricht, teils noch darunter liegt. Einer Kollegin, die empört die Frage stellte, wie man denn mit dieser Besetzung noch die Patienten anständig versorgen solle, sei entgegnet worden, in Zukunft würden die Patienten eben nicht anständig, sondern ausreichend versorgt. Erinnern wir uns: während des Streiks wurde den KollegInnen vorgeworfen, dass sie mit der Notdienstbesetzung Leib und Leben der PatientInnen aufs Spiel setzen. Und ein Jahr später soll dies nun offenbar der Normalfall werden??

Niemand bleibt verschont

Aber nicht nur diejenigen, die sich bisher für unentbehrlich hielten, werden eines besseren belehrt; auch jene, die sich aufgrund eines unbefristeten Arbeitsvertrages bislang sicher glaubten, bekommen nun vorgeführt, dass man MitarbeiterInnen auch ohne Kündigung loswerden kann: So wird beispielsweise der vor einigen Jahren eingerichtete Pflegepool, aus dem Pflegekräfte kurzfristige Personalengpässe auf den Stationen durch flexible Einsätze ausgleichen, zum 1. Juli ersatzlos gestrichen. Diese Arbeitsplätze waren neben ihrer Feuerwehrfunktion für KollegIinnen mit kleinen Kindern wichtig, da sie familienfreundliche Arbeitszeiten boten. Zwar sollen die Kolleginnen danach auf den Stationen eingesetzt werden, für die Allermeisten dürfte es aber schwierig werden einen Kindergarten zu finden, der morgens schon um sechs oder früher geöffnet ist. Somit ist abzusehen, dass dies für viele Kolleginnen das berufliche Aus bedeutet. Den KollegInnen aus der Betriebstechnik andererseits wurde mitgeteilt, dass künftig etwa zwei Dutzend von ihnen nicht mehr als Elektriker, Installateure o.ä. tätig sein werden, sondern im Wachdienst.

Mittlerweile dürfte allen Beschäftigten klar geworden sein, dass die Sparmaßnahmen jede/n Einzelne/n treffen, sei es durch Verlust des Arbeitsplatzes, durch Arbeitsverdichtung, Umsetzung oder Überführung in die geplanten Tochtergesellschaften.

Doch damit nicht genug: Auf einer Personalversammlung Ende Mai musste der Klinik-Vorstand einräumen, dass das Defizit 2006 doppelt so hoch ausfiel wie prognostiziert: nämlich zwanzig Millionen Miese. Da die angeblich streikbedingten Verluste ja bereits vorher eingerechnet waren, dürfte damit immerhin das Gerücht aus der Welt sein, dass es der Firma ohne den Streik prima ginge. Beiläufig erfuhren die anwesenden KollegInnen, dass deshalb für 2009 der Abbau von weiteren 200 Stellen geplant sei (macht dann 800 von insgesamt 5500 Vollzeitstellen). Dem hatten die PersonalvertreterInnen zunächst nur Rat- und Hilflosigkeit entgegenzusetzen, auch dem Sprecher des Marburger Bundes wären 30 Prozent mehr Selbstsicherheit zu wünschen gewesen, und auch die versammelte Belegschaft blieb zunächst wie vom Donner gerührt zurück.

Immer deutlicher wird, dass dem Vorstand nicht an Kommunikation mit den Beschäftigten und Einvernehmen mit der Personalvertretung gelegen ist, sondern allein an Wettbewerbsfähigkeit. Und wer glaubt, der Herr Conrad werde allein wegen Appellen und unverbindlichem Protestgemurre seinem marktwirtschaftlichen Credo abschwören, dürfte vollkommen falsch liegen.

Es ist an der Zeit, dass jahrelanges Missmanagement, Korruption und Ränkespiele in den "oberen Etagen" aufgedeckt werden. Nur ein Personalrat, der den Mut hat, diese schwarzen Flecken zu benennen, ist eine ernst zu nehmende Vertretung für die Beschäftigten.

Außerdem müssten Versammlungsmöglichkeiten und Foren in den diversen Arbeitsbereichen angeboten werden. Hier müssen die Beschäftigten alle Fragen, Ängste und auch allen Ärger und alle Wut ohne Anwesenheit von Management und Vorstand austauschen können. Nur so können dann Ideen entstehen, die anknüpfen an das Gefühl der gemeinsamen Stärke, wie sie vor einem Jahr beim Streik erlebt wurde.

Es kommt noch dicker...

Andererseits sollte der Belegschaft des Klinikums spätestens seit dem vergangenen Jahr klar sein, wie man Hardlinern des Arbeitgeberlagers am effektivsten entgegentritt. Wie hieß noch die Devise des vergangenen Jahres – "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren!"

Und zu kämpfen gibt es an allen Ecken mehr als der ohnehin schon gebeutelten Belegschaft lieb sein kann: am 19.06. sollen auf einer Sitzung des Stiftungsrates drastische Ausgründungen einzelner Klinikbereiche beschlossen werden. Geplant ist offenbar eine Service GmbH für Technische Angestellte, den Pflegedienst und andere. Eins ist dabei klar: Die Löhne in der Service GmbH werden natürlich niedriger sein.

... und Herr Conrad geht

Und während der Kahlschlag also munter fortschreitet, überrascht der Hauptverantwortliche für den Horrorkatalog nur wenige Tage vor der genannten Sitzung damit, dass er schon zum "Spätsommer" 2007 Göttingen wieder verlässt! Angeblich aus persönlichen Gründen wechselt er an das Uniklinikum Frankfurt: als ob solche Positionen mal eben zwischen Tür und Angel vergeben und entschieden werden. Eine ziemliche Blamage für die Göttinger Klinikleitung, die jedoch sicher nicht freiwillig, sondern nur bei ausreichendem Druck der Belegschaft ihre Politik ändern wird. Fragt sich nur, ob dieser Abgang nicht doch schon von Anfang an so geplant war. Vielleicht brauchte man Herrn Conrad nur als Haudrauf, der die schlechten Nachrichten überbringt und hinterher als Prügelknabe dient, damit ein neuer Vorstand die Entlassungen und die massive Arbeitsverdichtung in aller Ruhe durchziehen kann.

zum Anfang

 

Telekom-Streik:

"Meine Telekom"

Vor vielen Monden begann ich meine Ausbildung bei der DTAG. Ich dachte, hier kann ich was werden und in eine gesicherte Zukunft blicken. Ich war stolz in einem großen und kundenfreundlichen Unternehmen zu arbeiten, das auch was für seine Mitarbeiter tut. Doch die ernüchternde Realität holte mich schneller ein als mir lieb war. Im Zuge von mehr als 10 flächendeckenden Umorganisationen in den letzten 15 Jahren wurden über 120.000 Arbeitsplätze abgebaut. Dass dies nicht spurlos am Kunden und Mitarbeitern vorbei geht, kann sich sicherlich jeder ausrechnen und am eigenen Leibe spüren. Wer hat nicht eine Geschichte zu erzählen, in der es um miese Servicequalität, verpasste Termine oder stundenlange Warteschlangen geht.

Aus unserer Sicht eine Folge der verfehlten Personalpolitik in der Vergangenheit. Denn wie sollen interne Prozesse funktionieren, wenn man alle halbe Jahre einen neuen Ansprechpartner für ein bestimmtes Problem bekommt, der sich dann aber erst einmal einarbeiten muss. Teilweise fallen Schnittstellen zwischen Auftragsannahme und technischer Realisierung ganz weg. Call Center werden erst ausgegliedert und dann verkauft. Leute mit langjähriger Berufserfahrung gegen billigere 400 Euro Jobber und Studenten ausgetauscht, welche ohne Schulung und Einarbeitung Kundenanfragen bearbeiten sollen. Dies kann nicht funktionieren.

Hammer gegen die KollegInnen

Und nun kommt der Hammer. Wir, die Mitarbeiter sind schuld und sollen die Zeche zahlen: Nachdem in jüngster Vergangenheit 32.000 Arbeitsplätze abgebaut wurden, hat auch die Telekom verstanden, dass das anfallende Arbeitspensum nicht mehr zu bewältigen ist und der Service immer schlechter wird. Daher sollen 50.000 Beschäftigte in Servicegesellschaften ausgegliedert werden. Diese sollen dann:

  • mindestens 4 Stunden länger pro Woche arbeiten
  • 9% weniger Entgelt und
  • keine Lohnerhöhung bis 2009 erhalten und
  • 20% dieses neuen Entgeltes soll an Unternehmensziele geknüpft werden…

… Zielerreichung?

Hier soll es dann wohl der Firmenleitung frei stehen, Ziele zu vereinbaren, die dazu führen, dass auch ein großer Teil dieser 20% nicht an die Mitarbeiter ausgezahlt wird.

Mit den versteckten Arbeitszeiterhöhungen durch Kürzungen von Erholzeiten, der Änderungen der Log In/Out Zeiten und der Anfahrt zum Kunden in der Freizeit kommen wir insgesamt auf eine Entgelteinbuße von über 40%.

Nun frage ich mich, wozu die Telekom das ganze Geld braucht!? Ach ja, ich vergaß die Aktionäre. Die Telekom steht unter den Top 5 Unternehmen, die gemessen am Aktienkurs die höchste Dividende ausschütten. Das waren dann dieses Jahr mal wieder über 3 Mrd. Euro, welche die Mitarbeiter erwirtschaftet haben und an uns eingespart werden.

Einschüchterungsversuche vergeblich

Deshalb wehren sich die Beschäftigten. In der Urabstimmung stimmten 96,5% für einen Streik, da die Pläne der Telekom existenzbedrohend sind. Auch in Göttingen sind nun seit über 4 Wochen regelmäßig bis zu 80 Streikende vor dem Tor zu sehen. Bundesweit liegen die Zahlen konstant zwischen 12.000 und 14.000 Streikenden.

Keiner der Einschüchterungsversuche konnte bis jetzt den Willen zur Interessensdurchsetzung der Mitarbeiter brechen. Zu Pfingsten wurde jedem in einem persönlichen Brief versucht einzureden, dass, wenn wir nicht aufhören zu streiken, alles nur noch schlimmer wird. Auch die Streikbrecherprämie von einmalig 500 Euro hat bis jetzt noch keiner der Beschäftigten aus Göttingen angenommen.

Beamte dürfen leider nicht mit streiken, zeigen jedoch ihre Solidarität gegenüber den Streikenden und buchen sich während ihrer Mittagspause aus oder nehmen an verschiedenen Aktionstagen frei, um auch ihrem Unmut Luft zu machen. Denn auch sie sind betroffen. Mit Hilfe der Zuweisung sind sie den Kapriolen des Arbeitgebers schutzlos ausgeliefert.

Ausbildungssituation

Zum Schluss fällt mir wieder die Ausbildung ein. Letztens traf ich einen ehemaligen Auszubildenden, der mal bei uns in der Abteilung war.

"Na was machst du so nach bestandener Abschlussprüfung"?

"Ich arbeite bei Subunternehmer XY und mache dieselben Arbeiten wie ein Servicemonteur, nur fürs halbe Geld. Bei der Telekom wollten sie mich ja nicht übernehmen".

So geht es vielen unserer ehemaligen Auszubildenden, aber auch hier hat sich die Telekom etwas einfallen lassen. Die Einstiegsgehälter für Nachwuchskräfte sollen in Zukunft um fast 50% gesenkt werden.

Neue Verhandlungsrunde

In dieser Woche wird es nach langem Stillstand eine neue Verhandlungsrunde geben. Dazu erklärte sich ver.di bereit, weil die Telekom Gesprächsbereitschaft in allen Punkten signalisiert hat. Es ist zu hoffen, dass die Arbeitgeber das auch wirklich ernst meinen, aber es momentan scheint es so, als ob ein tragbare Lösung für die Beschäftigten immer näher rückt. Sollte dies nicht der Fall sein, sind die Streikenden jedenfalls bereit, weiter massiv die Mittel des Arbeitskampfes zu nutzen.

zum Anfang

 

Universität:

Wechsel im Uni-Personalrat

Mitte April gab es im Personalrat der Göttinger Universität einschneidende Veränderungen: Neu gewählt wurden ein neuer Vorsitzender sowie drei neue stellvertretende Vorsitzende. Rechtlich zulässig ist dies gemäß der Regeln des niedersächsischen Personalvertretungsgesetzes durchaus, aber sehr ungewöhnlich sind so starke Wechsel mitten in der Wahlperiode trotzdem, zumal hier auch ein politischer Richtungswechsel vollzogen wurde. Denn neu gewählt in den Vorsitz wurden drei ver.di-VertreterInnen!

Zum Verständnis der Ereignisse zunächst ein kurzer Rückblick: Bis 1996 hatte die komplette Georg-August-Universität, also einschließlich Klinikum, einen gemeinsamen Gesamtpersonalrat (GPR) und 16 örtliche Personalräte (z.B. Staats- und Universitätsbibliothek, Juristische Fakultät, Agrarwissenschaftliche Fakultät …). Der GPR war seit 1989 fest in den gewerkschaftlichen Händen der ÖTV, was der Universitätsleitung offenbar irgendwann ein Dorn im Auge wurde. Denn der damalige Uni-Präsident nahm die im Jahr 1996 anstehenden PR-Neuwahlen zum Anlass, den starken gemeinsamen GPR zu zerschlagen: Er verfügte per einseitigem Beschluss, dass es künftig zwei getrennte Personalräte geben sollte, einen für’s Klinikum und einen für die anderen Teile der Universität. Der GPR gab nicht kampflos auf, sondern klagte gegen die Teilungsverfügung durch mehrere gerichtliche Instanzen. Doch letztlich blieb er leider erfolglos. Seitdem haben wir also die uns bekannte Situation zweier ganz unabhängiger Personalräte innerhalb der Gesamt-Uni. Den Klinikums-PR wählen ausschließlich Klinik-Beschäftigte und entsprechend sieht es auch beim anderen, sogenannten "Uni-PR" aus.

Schon die erste getrennte Wahl 1996 ergab für das Klinikum eine starke ÖTV-Mehrheit (später ver.di), aber in den Uni-PR wurde mehrheitlich ein Zusammenschluss von nicht- bis antigewerkschaftlichen Listen gewählt. Diese PersonalvertreterInnen waren zwar weder inhaltlich noch ideologisch ein einheitlicher Block, aber ihre ListenführerInnen einte durchaus das gemeinsame Bestreben, einen antigewerkschaftlichen PR zu bekommen. Ihre deutlichen Mehrheiten konnten sie leider auch bei den folgenden Uni-PR-Wahlen halten, allerdings bei ständig sinkender Wahlbeteiligung. Die letzte Wahl war 2004, wobei der jetzt abgewählte PR-Vorsitzende seit 1996 durchgehend den Posten innehatte. Und auch seine VertreterInnen waren lange Jahre im Amt.

Was führte zum Erdrutsch im April 2007?

In den vergangenen elf Jahren nichtgewerkschaftlicher Orientierung sanken Ansehen und Integrität des PR langsam, aber unaufhörlich. Die Aktivitäten erschöpften sich zumeist in vorauseilendem Gehorsam gegenüber jedweder Verfügung der Uni-Leitung, und eigene Initiativen im Interesse der Beschäftigten waren kaum mit der Lupe zu erkennen. Dazu kamen interne Querelen bis hin zur Planung von juristischen Schritten gegen eigene PR-Kollegen. Andauernde Untätigkeit, selbstherrliches Verhalten der Vorsitzenden sowie zunehmende Streitigkeiten zwischen den Listenverbindungen der PR-Mehrheit spitzten sich immer mehr zu, und irgendwann war auch für viele Mitglieder des eigenen "Lagers" einfach das Maß des Erträglichen voll.

Im Frühjahr 2007 war es soweit: die Unzufriedenheit mündete in internen Widerstand, welcher nicht nur die Abwahl der drei "Leitfiguren" möglich machte, sondern mit der Wahl der 3 ver.di-Leute auch zu einem klaren pro-gewerkschaftlichen Votum führte. Entsprechend wurden den Abgewählten auch die Freistellungen entzogen und neu vergeben.

Der "alte" PR-Vorstand fügte sich aber nicht in sein Schicksal, sondern versuchte Druck auf die eigenen Listen auszuüben mit dem Ziel, dass "ihre" Listen komplett zurücktreten und damit Neuwahlen für den ganzen PR erzwingen. Das Ausmaß des Unmuts über die "eigenen Leute" lässt sich daran ablesen, dass dieser Coup scheiterte: denn die übrig gebliebenen nichtgewerkschaftlichen PR-Mitglieder blieben nicht nur im Amt, sondern unterstützen den Kurs des neuen ver.di-Vorsitzenden ausdrücklich mit.

Wie geht es weiter?

Vorgezogene PR-Neuwahlen konnten also vermieden werden. Alles Weitere ist derzeit noch ziemlich offen. Ob der nun nach 11 Jahren erstmals gewerkschaftsorientierte Uni-PR bei den Beschäftigten punkten kann, wird entscheidend von seinen künftigen Aktivitäten abhängen. Die Ausgangssituation dafür zumindest ist nicht schlecht: soweit zu hören ist, klappte die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen "Fraktionen" des "neuen" PR in den ersten Wochen ganz gut. Sämtliche Ausschüsse wurden inzwischen neu besetzt und anders als früher scheint eine offene und konstruktive Arbeit im PR möglich.

Erste Reaktionen der Uni-Leitung weisen darauf hin, dass sie den neuen PR-Vorsitz ernst nimmt und sofort begann, bei jeder sich bietenden Gelegenheit dem PR seine engen Handlungsspielräume unter die Nase zu reiben.

Wenn der PR das Vertrauen der (breit gefächerten) Uni-Belegschaft gewinnen und dauerhaft halten will, muss es ihm gelingen, sich Respekt gegenüber der Uni-Leitung zu verschaffen und eine konsequente und aktive Interessenvertretung zu betreiben. Ein hartes Stück Arbeit, wir wünschen viel Erfolg.

zum Anfang

 

Tarifrunde 2007:

Schluck aus der Pulle?

Plus ist Muss! Das ist das Motto der IG Metall zur diesjährigen Tarifrunde gewesen. Das Motto ist allerdings nicht gerade kämpferisch, denn dass die Gewerkschaft mit Warnstreiks und allem Drum und Dran für ein 'Minus' kämpft, hat wohl ehrlicherweise niemand erwartet. Bereits Ende 2006 bekamen die Gewerkschaften Rückenwind für 2007: allenthalben wurde ein Abschluss gefordert, der die KollegInnen an der gestiegenen Konjunktur angemessen beteiligt.

Wer genauer hin geguckt hat, der bekam allerdings schon seine Zweifel, denn die bescheidenen Abschlüsse der vergangenen Jahre galten Politikern von CDU bis SPD auch als 'angemessen', wenn nicht sogar als völlig überzogen. Wie bescheiden die Abschlüsse waren, konnte man in den Argumentationshilfen der IG Metall nachlesen: in den letzten zehn Jahren sind die Einkommen der ArbeiterInnen real (d.h. nach Abzug der Preissteigerung) sogar gesunken. Trotzdem haben Forderungen wie die von Kurt Beck (zur Erinnerung: das ist der amtierende Vorsitzende der SPD) nach 'anständigen Lohnanteilen' bei vielen KollegInnen hohe Erwartungen geweckt.

Schneller Abschluss

Der Auftakt der Tarifrunde '07 fand dann zwischen der IG BCE und der Chemischen Industrie statt. Hier zeigte sich bereits eine Tendenz der 07er Verhandlungsrunden: der Abschluss muss schnell erzielt werden, darf nicht allzu viel kosten und muss so verpackt sein, dass er zur gewerkschaftlichen Gesichtswahrung taugt. So wurde in der Chemie ein Abschluss von 4,3% erzielt. Davon sind allerdings nur 3,6% tabellenwirksam, bleiben den KollegInnen also auf Dauer im Portemonnaie. Der Rest sind Einmalzahlungen, die sich eben nur einmalig und nicht auf Dauer auf das Gehalt auswirken. Es wäre schön, wenn wir mit dem Bäcker oder dem Vermieter auch solche Preissteigerungen aushandeln könnten nach dem Motto: "Nächste Woche isses dann aber wieder billiger!" Und wer genau das Kleingedruckte liest, der merkt auch, dass die Laufzeit des Tarifvertrages 14 Monate beträgt. Damit bleibt dann eine tabellenwirksame, sozusagen 'echte' Lohnerhöhung von 3,1%. Die Kapitalseite hat sich vor allem mit ihrer Forderung durchgesetzt, einen Teil der Lohnerhöhung nur einmalig und nicht auf Dauer zu zahlen.

Moderate Forderung

Angesichts der Preissteigerungsrate, die durch die Mehrwertsteuererhöhung dieses Jahr etwas kräftiger ausfallen dürfte – Experten gehen von ca. 1,7 bis 2,2% aus – ist dieses Ergebnis nicht gerade üppig. Die Verluste der vergangenen Jahre gleicht es jedenfalls nicht aus. Es ist also kein Wunder, dass die Forderung von 6,5% Lohnsteigerung von Seiten der IG-Metall-Tarifkommission nicht nur auf Begeisterung gestoßen ist. Viele KollegInnen hatten sich mehr versprochen. Zumal die IG Metall eine gewisse Vorreiterrolle spielt und für andere Branchen die 'Schlagzahl' festlegt. Die vollen Auftragsbücher in vielen Betrieben haben die Ausgangslage gut aussehen lassen. Selbst Gesamtmetallchef Kannegießer räumte ein, dass es in diesem Jahr für die Betriebe nicht möglich sei, die Kapazitätsverluste durch Warnstreiks wieder herein zu arbeiten, weil es so viel zu tun gibt. Zwar hat die Arbeitgeberseite sich bis zum Ende der Friedenspflicht nicht zu einem annehmbaren Angebot hinreißen lassen – man wollte schließlich wissen, wie kampfstark die IG Metall in diesem Jahr ist. Aber auf das sonst übliche Gewerkschafts-Bashing hat die Arbeitgeberseite diesmal verzichtet.

Optisch 4,1% oder: Scheinriesen werden kleiner, wenn man näher kommt.

Und als es ernst wurde mit den Warnstreiks haben IG-Metall-Vorstand und die Verhandlungsführer von Gesamtmetall einen Abschluss in Turbozeit hingelegt. Auf den ersten Blick kann sich das Ergebnis sehen lassen. Immerhin gibt es monatlich 4,1% mehr Geld. Aber auch bei der IG Metall ist der Abschluss so kompliziert, dass genaues Nachrechnen notwendig ist, um die 'echte' Tariferhöhung zu ermitteln. Aufgrund der krummen Laufzeit von 19 Monaten und der Kombination von tabellenwirksamen Bestandteilen und Einmalzahlungen kommen die Chefmathematiker zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Die GBE-Redaktion schließt sich der folgenden Bewertung an: Der Abschluss entspricht in etwa einer jährlichen Erhöhung von 3,6%, von denen aber nur 3,3% langfristig in der Tabelle wirksam sind.

Wozu der Etikettenschwindel?

Nun kann man sich natürlich fragen, wozu dieser Etikettenschwindel eigentlich gut ist. Eine große Rolle spielt sicherlich der Führungswechsel in der IG-Metall-Spitze. Beim diesjährigen Gewerkschaftstag wird Jürgen Peters nicht mehr zur Wahl stehen und Berthold Huber, der für die Tarifpolitik zuständig ist, muss irgendwelche Erfolge vorweisen können. Und sicherlich befürchten die Gewerkschaftsfunktionäre auch, dass weitere KollegInnen der Gewerkschaft den Rücken kehren, wenn sie sich nicht kampfstark genug gibt. Ein solches Vorgehen kann allerdings auch leicht nach hinten losgehen, wenn in der Öffentlichkeit ein solcher Schwindel auffliegt. So geschehen, als in den letzten Monaten die gewerkschaftsinterne Kritik an dem hochgelobten ERa-Tarifvertrag unüberhörbar wurde. Als im Spiegel darüber berichtet wurde, dass in vielen Betrieben die Einführung der neuen Tarifsystematik zu massiven Abgruppierungen genutzt wird, musste die IG-Metall-Führung kleinlaut zugeben, dass die Era-Einführung mehr Probleme macht als man gedacht hatte.

War 'mehr drin'?

Bleibt also die Frage, ob für die KollegInnen 'mehr drin' gewesen wäre. Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Die Einschätzung der Tarifkommission in Bezug auf die Forderungshöhe war nicht völlig abwegig. Die Warnstreiks kann man sicherlich nicht als völligen Flop bezeichnen, aber es waren auch schon mal mehr KollegInnen, die vors Tor gegangen sind. Es hatte sich bei vielen KollegInnen das Gefühl breit gemacht, dass 'der Spatz schon gefangen' ist. Und da in den Betrieben viel zu tun ist, meinte so mancher, dass er sich den Streik nicht leisten kann, weil sonst zu viel Arbeit liegen bleibt. Im Endergebnis hat sich diese Form von trägem Selbstbewusstsein gerächt – so ist eben nicht mehr drin!

Der Abschluss zeigt aber auch auf, dass es nach jahrelangen Sparpredigten nicht einfach ist, die KollegInnen für eine kräftige Lohnerhöhung zu mobilisieren. Massenarbeitslosigkeit und das ständige Verlagern von Arbeitsplätzen in den Bereich von Scheinselbstständigen oder LeiharbeiterInnen führt dazu, dass immer weniger KollegInnen überhaupt noch zu tariflichen Bedingungen arbeiten – im Osten Deutschlands sind es inzwischen weniger als die Hälfte. Die KollegInnen müssen innerhalb der Gewerkschaft wieder eine Diskussion über Tarifforderungen jenseits der Lohnerhöhung führen: da muss es darum gehen, mehr KollegInnen z.B. aus dem Leiharbeitsbereich zu organisieren, da muss es um neue Arbeitszeitmodelle gehen, die im Effekt zur längst fälligen Arbeitszeitverkürzung führen, da muss es darum gehen, wie der allmähliche Ausstieg aus dem Arbeitsleben geregelt wird. Auf all diese Fragen muss eine Antwort gefunden werden und die Frage, ob es nun eine 4 vor dem Komma ist, erscheint da ziemlich langweilig. Und dafür sind Gewerkschaften und Tarifkämpfe nun wirklich nicht gemacht, langweilig zu sein.

zum Anfang

 

Mahr:

Tarif nach Art des Hauses

Bei der Firma Mahr gibt es seit mehreren Jahren einen Haustarifvertrag. So muss nach jeder Tarifverhandlung bei Mahr noch einmal die berühmte Extrawurst gebacken werden. Die Tarifverträge 'nach Art des Hauses' bei Mahr sind allerdings nicht die Schlechtesten, denn wo die KollegInnen gut organisiert sind, da können auch die VerhandlungsführerInnen der Gewerkschaft mit entsprechendem Selbstbewusstsein auftreten. So wurde der IG Metalltarif in allen Punkten auch bei Mahr übernommen. Die Öffnungsklausel, nach der die zweite Stufe der Tariferhöhung im Jahr 2008 um bis zu 4 Monate verschoben werden kann, wurde gestrichen; dafür wurde diese Erhöhung um einen Monat auf Juli 2008 verschoben. Um dem Menü zusätzlich die rechte Mahr-Würze zu geben, wurden zwei Punkte aufgenommen: ✔ Die Zahl der Altersteilzeitplätze wurde von 32 auf 37 KollegInnen erhöht. ✔ Für StudentInnen im Praxisverbund (eine Kombination aus Studium und betrieblicher Ausbildung) übernimmt die Firma die Studiengebühren in Höhe von 500 Euro pro Semester. Manchmal darf es eben ein bisschen mehr sein.

zum Anfang

 

Ilse Möbelwerke:

Arbeitszeitverlängerung vom Tisch?

Seit 1890 gibt es die Ilse Möbelwerke in Uslar und auch heutzutage ist die Firma noch für Tische mit raffinierten Verstellmechaniken bekannt. Weniger raffiniert sondern eher grobschlächtig geht die Firmenleitung mit den KollegInnen um, die bei Ilse die Arbeit machen. Natürlich ist die Billigkonkurrenz an dem Werk in Uslar nicht spurlos vorbei gegangen und die Zeiten, in denen Hunderte von UslarerInnen bei Ilse in Lohn und Brot standen, sind längst vorbei. Aber das muss ja nicht heißen, dass sich die KollegInnen alles gefallen lassen müssen.

Immer wieder Verzicht

Schon seit Jahren hat die Belegschaft auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichtet, um den Fortbestand der Firma zu sichern. Im letzten Jahr hat die Betriebsleitung allen Beschäftigten die Pistole auf die Brust gesetzt: ohne Rücksicht auf die gültigen Tarife wollte sie von allen KollegInnen eine Unterschrift unter eine Vereinbarung, die 40 statt 36 Wochenstunden vorsieht – als 'Ausgleich' dafür sollte es 1,5% mehr Lohn geben. Dreizehn KollegInnen haben in dieser Situation 'Nein' gesagt und ihre Unterschrift verweigert. Sie haben zwar mit Rücksicht auf die Betriebsorganisation ebenfalls 40 Stunden gearbeitet, haben aber den vollen Lohn gefordert.

Arbeitsgericht gibt KlägerInnen recht

Das Göttinger Arbeitsgericht hat den KollegInnen diesen Lohn jetzt zuerkannt. Weiterhin unklar ist allerdings, ob die KollegInnen das Geld nur für die Vergangenheit bekommen oder ob die Firma ein Einsehen hat und ihnen auch für die Zukunft das Geld überweist, das ihnen zusteht. Vor Gericht hat der Unternehmensvertreter sich jedenfalls nicht einsichtig gezeigt. Dort hat er unverhohlen mit Kündigungen gedroht – wohl ein Versuch, einen Spaltkeil zwischen die Belegschaft zu treiben, die durch das Urteil nun sowieso schon zweigeteilt ist: da gibt es die KlägerInnen, die 40 Stunden in der Woche bezahlt werden und diejenigen, die nicht geklagt haben und nun 4 Stunden pro Woche umsonst arbeiten müssen. Und um den Streit noch ein bisschen weiter zu treiben, verweigert die Geschäftsführung den KlägerInnen jetzt die 1,5% Lohnerhöhung.

Öffentliche Kritik

Immerhin trifft das Verhalten der Geschäftsleitung öffentlich auf immer mehr Kritik. Nachdem das Vorgehen der Firma auch Thema auf der 1.Mai-Kundgebung in Uslar war, hat die SPD-Stadtratsfraktion ihre Solidarität mit den KollegInnen erklärt, die sich gegen die einseitige Arbeitszeitverlängerung wehren.

zum Anfang

 

Rentenpolitik

Rente mit 67?

Seit die große Koalition zusammenfand, bekam die Diskussion um die Rentenprobleme (nach vielen Jahren ohne Rentenerhöhungen gibt es erst dieses Jahr zum 1.7. magere 0,54 Prozent mehr) noch eine andere Wendung. Mehr und mehr redeten nun Arbeitgeberverbände, andere Lobbys und die hoch dotierten "Wirtschafts"- und anderen "Weisen" und die meisten ParteipolitikerInnen von einer unbedingt nötigen Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre. Und somit soll dann der Einstieg in die Rente ohne Kürzungen für die Beschäftigten erst mit 67 Jahren erfolgen können.

Warum das?

Angeblich sind die Renten bald gar nicht mehr finanzierbar, die nicht mehr erfolgten Anpassungen sind erst der Anfang. Die Erhöhungen der Beiträge zur Rentenversicherung (sie wurden gerade jetzt zum 1.1.2007 mal wieder von 19,5 auf 19,9 Prozent vom Bruttogehalt erhöht) sind angeblich auf Dauer so nicht mehr durch zu führen. Die Rentenreserven, die der Bund für einen gewissen Notzeitraum bereit halten sollte, sind fast auf Null geschrumpft. Und wer hat Schuld?

Selbstverständlich die Beschäftigten und die RenterInnen. Vor allem die Alten und die Kinderlosen. Sie leben einfach zu lange und arbeiten nicht lange genug!

Die Deutschen werden immer älter – bis 2035 erwarten Statistiker eine Lebenserwartung von mehr als 85 Jahren für Frauen, von 80 Jahren für Männer. Sie zahlen seltener in die Rentenkasse, denn die Zahl sozialversicherungspflichtiger Jobs schrumpft. Und sie kriegen zu wenig Kinder. "Im Grunde sind die Rentenempfänger der Jahre 2025 und später selbst schuld", sagt Bernd Raffelhüschen, Rentenökonom der Uni Freiburg: der Nachwuchs fehlt.

Seit einiger Zeit läuft eine regelrechte Hetzkampagne "Alt gegen Jung". Immer mehr Bücher erscheinen zu diesem Thema und die meisten sind in diesem Tenor: "die Menschen werden immer älter und sie bekommen vor allem nicht genug Kinder." Die Alten genießen ihren Lebensabend (hoffentlich und mit vollem Recht, die Redaktion), werden immer aktiver und immer weniger Junge müssen dafür schuften (derzeit zwei jüngere Beschäftigte für eine/n RenterIn. Die Jungen werden aufgefordert, sich das nicht gefallen zu lassen (von den Alten) und selbst natürlich möglichst Kinder in die Welt zu setzen. Der demografische Faktor und die Vergreisung der Gesellschaft sind dann die Zauberworte. Neben diversen BuchautorInnen beglücken uns mit diesen halbgaren Erkenntnissen die bei solchen Diskussionen unvermeidlichen VertreterInnen der wissenschaftlichen Elite wie Prof. Rürup und Prof. Raffelhüschen etc. Viele Talkshows nahmen sich des Themas mit diesen Argumenten an. Selten wurden kritische Stimmen laut, die ganz andere Vorschläge einbrachten. Wie auch bei anderen Themen kein Wunder, wenn sich der Mainstream der Medien zusammen mit dem Kapital und mit den meisten ParteienvertreterInnen vor diesen Karren spannt.

Außerdem behauptet die Große Koalition allen Ernstes, diese Heraufsetzung des Renteneintrittsalters würde auch mehr Arbeit schaffen!

Wie und wann soll die Heraufsetzung genau vor sich gehen?

Im Laufe der letzten Monate wurde es dann konkreter. Sie machten ernst. Selbstverständlich hatte vor der letzten Bundestagswahl keine Partei solche Maßnahmen angekündigt oder diskutiert. Aber wen überrascht so was noch?

Nicht für alle an einem Stichtag soll das Rentenalter heraufgesetzt werden, sondern in einem Stufenmodell über etliche Jahre. Zunächst sollte die Umstellung für alle erst 2035 erreicht werden, aber nun ist 2030 angepeilt. Am 13. Dezember 2006 beschloss der Bundestag in erster Lesung diese Gesetzesänderung. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 soll schrittweise in der Zeit zwischen 2012 bis 2029 erfolgen, so dass ab alle ab 1964 geborenen für eine abschlagsfreie Altersrente bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres arbeiten müssen.

Der Anhebungsprozess. Ab dem Jahre 2012 soll die Regelaltersgrenze zunächst in Schritten von einem Monat pro Geburtsjahrgang auf 66 Jahre steigen. Hiervon betroffen sind die Jahrgänge 1947 bis 1958. Die weitere Anhebung auf 67 Jahre erfolgt in Schritten von jeweils zwei Monaten pro Geburtsjahrgang; dies betrifft die Geburtsjahrgänge ab 1959. Genauer nach zu verfolgen ist dass in dem Kasten, der unter diesem Artikel steht.

Am 9. März 2007 hat der Bundestag dann schon die letzte Lesung des Gesetzentwurfes durchgeführt und es beschlossen und am 30. März stimmte der Bundesrat diesem Gesetz zu.

Das Hauptziel ist die Rentenkürzung!

Darüber sind sich viele in diesem Lande einig. Unter der ideologischen Dunstglocke lauert das Vorhaben einer umfassenden Rentenkürzung in der Zukunft. "Verkappte Rentenkürzung", so wirft es (ganz empört) selbst ein FDP-Politiker (Heinrich Kolb) der Bundesregierung vor. Prof. Raffelhüschen sagt es unumwunden: "Letztlich sprechen wir über eine Senkung der Renten", stellt er fest. "Wer 24 Monate später in Rente geht, bekommt auch 24 Monate weniger Rente als bisher." Im Schnitt sind das 7,2 Prozent weniger. Hier soll (na ja, muss) der unsägliche Bundesarbeitsminister Franz Müntefering schon wieder einmal zitiert werden: "Die meisten werden vor dem Höchsteintrittsalter in Rente gehen. Die Frage ist halt, wie viel Geld sie dann haben." So ist das. Pro Monat werden bei vorgezogener Rente 0,3 Prozentpunkte an selbiger gekürzt. Wer z. B. mit 63, nach rund 35 Beitragsjahren, bereits in den Ruhestand gehen will oder muss, der hat stolze 14,3 Prozent Rente weniger! Wenn wir dann noch Teuerungsrate und Wertverlust des Geldes einrechnen: so ist das viel weniger von ohnehin wenig. Franz Müntefering sagt an solchen Stellen derzeit gerne: "ich bin ja schon 66." Ob er damit sein gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein beschreiben will? "Nach mir die Sintflut" wäre doch viel klarer.

Was sind die Fakten?

• Schon heute erreichen nur ca. 17 Prozent der Beschäftigten die reguläre Altersgrenze von 65 Jahren. Immerhin 50 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden mehr über 50 Jahren.

• Die psychomentalen und die psychosozialen Belastungen in vielen Arbeitsbereichen sind außerordentlich hoch. Die hohe Zahl der Frühverrentungen von z. B. Lehrerinnen und Lehrern spricht hier Bände. Und die körperliche Belastung und Arbeitsverdichtung und deren Folgen z. B. in der Produktion erst recht.

• Ältere sind häufiger arbeitslos. Arbeit bis 67 verlängert die Arbeitslosigkeit vor der Altersversorgung. Das führt zu Altersarmut.

• Arbeit bis 67 zieht auch alle anderen Altersgrenzen nach oben. Wie z. B. die für schwer behinderte Menschen.

Beschäftigte mit 45 Beschäftigungsjahren sollen eine ungeminderte Altersversorgung erhalten. Erreicht werden diese 45 Jahre schon jetzt (Rente mit 65) von kaum einem, denn die Menschen bleiben ja nicht automatisch länger arbeitsfähig, wenn sie älter werden und viele haben Lücken der Erwerbslosigkeit dazwischen.

Zunächst, haben seriösere Wissenschaftsinstitute errechnet, müssten in der Zeit der Heraufsetzung der Lebensarbeitszeit auf 67 rund 1,2 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden!!

Täuschen wir uns, oder ist es nicht weiterhin so, dass ständig neue Entlassungswellen bzw. massenhaftes Outsourcing (Telekom) gerade von größeren Betrieben und Konzernen bei Übernahmen und aus diversen anderen Gründen angekündigt werden? Und dass Rationalisierung und Produktivitätssteigerung weiter zunehmen?

Die Situation der älteren Erwerbslosen

- Von denjenigen, die 2005 erstmals Altersrente erhielten, waren direkt vor dem Rentenbeginn nur ganze 32 Prozent versicherungspflichtig beschäftigt, Altersteilzeit eingeschlossen.

- Im August 2006 waren bei der Bundesagentur für Arbeit 1,12 Millionen Erwerbslose zwischen 50 und 64 Jahre alt.

- Nimmt man die Arbeitslosengeld II-Betroffenen noch mit dazu, so werden mehr als ein Viertel aller Erwerbslosen über 50 Jahre alt sein.

- Dazu kommen noch rund 350.000 ältere Erwerbslose, die die sog. 58er-Altersteilzeitregelung wahrnehmen. Über 58jährige bekommen Arbeitslosengeld I oder II und werden von der Arbeitsagentur bzw. ARGEn und Job-Centern ansonsten in Ruhe gelassen, bis zur einer Verrentung ohne Abschläge.

- Dann sind noch mindestens 50.000 1-Euro-JobberInnen über 50, weitere 115.000 mit Zusatzjobs kommen dazu und alle diese Zahlen sind die offiziellen Schätzungen bzw. Statistiken. Also im Zweifelsfall eher noch einige mehr. Auf jeden Fall sind die 1,2 Millionen neuen Arbeitsplätze schon für diese Betroffenen nötig. Denn davon, dass die Arbeitszeit bis auf 67 heraufgesetzt wird, bekommt kein/e Einzige/r einen Arbeitsplatz! Nein, die oben erwähnten 1,2 Millionen kämen noch dazu. Macht schon rund 2,4 Millionen fehlende Arbeitsstellen!

- Und solche Programme wie das jetzt losgetretene `50Plus-Programm` ("Initiative 50 plus" = mit Lohn- und Eingliederungszuschüssen und Ansprüchen auf Fortbildung sollen ca. 30.000 ältere Erwerbslose gefördert werden, evtl. sogar Arbeitsplätze bekommen), in dem viele Millionen letztlich wirkungslos verpuffen werden und nur zwischendurch für einige jüngere und auch ältere Erwerbslose und Bildungsträger für eine Zeit der Beschäftigungstherapie gesorgt wird, werden nicht viel ändern. Sie sind ja auch keineswegs neu und haben bisher nichts geändert.

- Dazu seien nur noch stichwortartig weitere Verschlechterungen aufgezählt wie die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I; schon 2006 die Heraufsetzung des frühestmöglichen Rentenbezuges von 60 auf 63 Jahre; die Rentenansprüche für ALG II-Beziehende wurden gerade zum Jahresbeginn glatt halbiert usw.

Alternativen

Schon jetzt wird klar, dass diese Heraufsetzung alles andere schaffen wird als Arbeit. Es bleibt dabei, dass eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit und durchaus sogar eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit im Verbund mit vielen weiteren Maßnahmen wie der Einführung von Mindestlöhnen, vielleicht auch einer anderen Art der Grundsicherung (z. B. ein Grundeinkommen), erweiterten Besteuerung der Reichen und der Unternehmen und das Beenden des langjährigen Lohnverzichtes bis hin zu öffentlichen Beschäftigungsprogrammen angesagt bleiben. In der Diskussion ist auch eine Rentenpflichtversicherung für alle. An alle diese Maßnahmen trauen sich derzeit denkbare Regierungskoalitionen nicht heran bzw. höchstens in irgendwelchen heraus gelösten Häppchen, die dann auch wirkungslos verpuffen werden.

Aber selbst, wenn man im Wesentlichen bei der herkömmlichen Rechnungsart bleibt, so kommt Jochen Steffen von der Arbeiterkammer Bremen zu ganz anderen Ergebnissen:

Mit einem paritätischen Beitrag von (hoch gegriffenen) 28 Prozent im Jahre 2030 wäre weiterhin ein den jetzigen Lebensstandard sicherndes Alterseinkommen finanzierbar – und zwar auch ohne die »Rente mit 67«. Dabei ist die wachsende Produktivität noch nicht berücksichtigt . Nimmt man einmal die sehr zurückhaltenden Prognosezahlen der Herzog-Kommission - die zu den "Dramatisierern" in Sachen Rente gehört - von einem jährlichen Produktivitätswachstum von 1.25% an, so wird 2030 ca. 30% mehr Reichtum produziert als heute. Damit ist locker eine steigende Zahl von Rentnern zu finanzieren, ohne dass die BeitragszahlerInnen auf Zuwachs an ihrem Wohlstand verzichten müssten - zumal die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ja auch aus dem Einkommen der Beschäftigten unterhalten werden müssen, laut Prognose sinken wird. Voraussetzung wäre allerdings, dass der erarbeitete Reichtum auch bei denen ankommt, die ihn schaffen!!

Seit der »Riester-Reform« geht es allerdings vorrangig um die Privatisierung sozialer Risiken und ihrer Kosten. Gewinner sind die Unternehmen und private FinanzdienstleisterInnen. Den (jüngeren) Beschäftigten wird dies als »generationengerechte Entlastung« verkauft; sie müssten 2030 nur 11 Prozent statt 14 Prozent Rentenbeitrag zahlen. Dass sie bereits heute für einen gesicherten Lebensabend insgesamt mehr aufzuwenden haben (über zusätzliche private Rentenversicherungen usw.) als die vermeintlich »unzumutbaren« 14 Prozent Rentenversicherungsbeitrag, die im Jahre 2030 für eine sichere Rente fällig wären, wird bei der öffentlichen Verdummungskampagne bislang erfolgreich unterschlagen. – Wer sich zudem, wie etwa der DGB, in die gegenwärtige Propagandainitiative (private) »Altersvorsorge macht Schule« einbinden lässt, der hat augenscheinlich politisch bereits kapituliert und sich vom Ziel einer, den Lebensstandard sichernden, paritätisch finanzierten Rente längst verabschiedet.

Gibt es Proteste?

Ja, die gab und gibt es: In einer sich bundesweit ausweitenden Protestwelle und mit einigen der oben aufgeführten Alternativmaßnahmen als Forderungen haben mehrere DGB-Gewerkschaften (vor allem die IG Metall) begonnen, über die wahren Ziele der Rente mit 67 zu informieren und viele Aktionen durchzuführen. Das fand Ende Januar über mehrere Tage hinweg entweder als betriebliche Informationsversammlung oder verlängerte Mittagspause in der Stadt und auch als mehrstündiger Warnstreik statt. Bundesweit waren wohl mehr als 300.000 KollegInnen beteiligt.

In Göttingen zogen am 31.Januar 2007 700 KollegInnen von Bosch, Mahr, Zeiss, Sartorius, Novelis, Metallumform, Demag, Isco und Uni-Klinik protestierend durch die Stadt. Auch Gewerkschafter der IG BAU, ver.di und Transnet waren dem Aufruf des DGB gefolgt und mit dabei.

Sofort handelten sich die KollegInnen übrigens von der sog. Arbeitgeberseite (Herr Hundt u. a. waren schnell zur Stelle) den Vorwurf ein, sie würden einen politischen Streik durchführen und das sei ja in Deutschland gesetzlich verboten. Das hat aber niemanden wirklich beeindruckt und meistens wurden die Aktionen auch phantasievoll anders benannt.

In einer geplanten zweiten Welle wollten die Gewerkschaften ihren Protest gegen die Regierungspläne zwar weiterhin kundtun, aber größere Aktionen wie in der ersten Protestwelle waren dabei schon nicht mehr geplant. Beispielhaft seien hier der IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters und sein Stellvertreter Berthold Huber zitiert, die in einem internen IG-Metallrundbrief schreiben (nachdem sie die bisherigen Proteste durchaus als deutlichen Erfolg bezeichnen): "Wir werden den aktuellen Gesetzgebungsprozeß weiterhin mit geeigneten gewerkschaftlichen Mobilisierungsmaßnahmen begleiten und auf grundlegende Korrekturen drängen…." Sollte die Bundesregierung bei ihrer harten Verweigerungshaltung bleiben, mögen sie nicht ausschließen, dass sich der Konflikt bis 2009 hinzieht.

Aber die Aktionen, die liefen bzw. zu diesem Zeitpunkt geplant waren, blieben wesentlich unspektakulärer als vorher (Anhörungen, Anwesenheit von Beschäftigten im Bundestag, kleinere örtliche Aktionen und Infostände, Umfragen unter den Belegschaften, PolitikerInnen werden zu Arbeitsproben in Betriebe eingeladen usw.). Peters und Huber meinten, dass der bisherige Protest bereits ein deutliches Signal an die Politik gewesen sei und wollten den Schwung daraus mit in die anstehenden Tarifverhandlungen nehmen.

In der Tarifrunde war dann allerdings dieses Thema irgendwie verschollen!

Wer ein solches Gesetzesvorhaben zu Fall bringen, also real verhindern will, müsste flächendeckend mobilisieren. Der erste Anlauf war genommen, es war tatsächlich etwas Schwung da und die meisten Beschäftigten durchschauen schon, was da läuft. Aber irgendwie klingt es wieder so wie neulich vom DGB-Vorsitzenden Sommer, als der praktisch den Widerstand gegen Hartz IV mehr oder weniger aufgab und zur `konstruktiven Mitarbeit` zurückschwenkte.

Den Ausstieg herbeiführen!

So wird das nicht klappen. Die Politik und die Wirtschaft verfahren wie gehabt: statt der Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen bekämpfen; statt einer tatsächlichen und sinnvollen Gesundheitsreform die Kranken weiter ausnehmen und nun statt einer Rentenreform die RentnerInnen ärmer machen. Das hat System und das gehört zum System. Konstruktive Mitarbeit wird davon nichts stoppen geschweige denn zu Fall bringen. Der Mut zum Kämpfen müsste her, auch der Mut, politische Streiks auszufechten. Die Betroffenen haben übrigens zu Zehntausenden mit den Füssen abgestimmt. Als klar wurde, dass die Altersteilzeitregelung ausläuft (wer vor dem 1.1.1955 geboren wurde, konnte noch bis Ende 2006 eine Altersteilzeitregelung mit dem Betrieb vereinbaren, um ohne Abzüge mit 65 in Rente zu gehen und mit durchschnittlich 70 Prozent des Gehaltes bei verschiedenen verkürzten Arbeitszeitmodellen weiter zu arbeiten) und die Pläne der Rente mit 67 laut wurden, haben schon sehr viele die letzte Chance ergriffen und sich für diese Altersteilzeitregelung entschieden. Viele Unternehmen, die ohnehin Personal abbauen wollten, haben gerne eingewilligt.

Bei der Rente mit 67 ist aber leider kein Unterlaufen möglich. Solche Gesetze müssen wieder weg! Eine Chance dazu gäbe es im Jahre 2010, wenn das jetzt beschlossene Gesetz durch eine sog. Ausstiegsklausel, die in letzter Minute in den Gesetzentwurf eingefügt wurde, nochmals überprüft werden soll.

zum Anfang

 

Arbeitslose:

Arbeitslosengeld II (Hartz IV) und die Folgen

Lüften erlaubt, Wohnen verboten

Im sächsischen Löbau wohnen viele Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen in zu großen Wohnungen. Um trotzdem bleiben zu können, wird einfach ein Zimmer geräumt.

Am Wochenende, wenn Sohn Peter mit seiner Freundin zu Besuch kommt, muss Karla Meinert umräumen. Die 47-jährige Arbeitslose aus Löbau in Ostsachsen macht für das junge Paar das eigene große Bett frei und zieht sich zur Nacht ins Wohnzimmer zurück. "Ich muss mir dann das Gästebett aufstellen", sagt sie. Bis zum September musste sie das nicht. Damals hatte die Sozialpädagogin noch einen Job. Jetzt bekommt sie Arbeitslosengeld II – und das hat die seltsamen Umräumaktionen am Wochenende zur Folge: Die 80 Quadratmeter große Vier-Zimmer-Wohnung schrumpfte nämlich auf drei Zimmer und 70 Quadratmeter zusammen. Die Bewohnerin musste ein Zimmer aufgeben.

Der Grund ist in den Arbeitslosengeld-II-Bestimmungen zu finden: Karla Meinert bekommt nur eine bestimmte Summe Miet-(plus Nebenkosten) und Heizungsgeld (Kosten der Unterkunft = KdU). Die 4-Zimmer-Wohnung kostete 430,15 Euro warm und lag über der Fördergrenze. Karla Meinert hätte sich eine kleinere Wohnung nehmen oder den Rest über der Fördergrenze, über 50 Euro, aus eigener Tasche bezahlen müssen. Das konnte sie nicht. Daraufhin schlug ihr die Löbauer Wohnungsgesellschaft einen Trick vor: ein Zimmer ausräumen, abschließen und nicht mehr benutzen. Die Wohnungsgenossenschaft reduzierte die Miete auf den Betrag der Höchstförderung für die Kosten der Unterkunft herunter, Frau Meinert muss nichts zuzahlen und bleibt in der Wohnung minus ein Zimmer. "Mir ist damit geholfen", sagt sie. "Etwas seltsam ist es trotzdem."

Kein Einzelfall

Karla Meinert ist in Löbau kein Einzelfall. Sie ist eine von etwa 100 MieterInnen der Wohnungsgesellschaft, denen es genauso ergangen ist. Einmal im Monat schickt die Gesellschaft angeblich eine Mitarbeiterin durchs Viertel, um nachzuschauen, ob wirklich alle ausgemusterten Zimmer leer sind. Und Löbau ist nicht die einzige Stadt, in der diese absurden Maßnahmen getroffen wurden.

"Wenn es nicht so erniedrigend wäre für die Betroffenen, müsste man es eine Provinzposse nennen", meint die grüne sächsische Landtagsabgeordnete Elke Herrmann. Doch tatsächlich haben sich alle mit der kuriosen Lösung eingerichtet. Die Wohnungsgesellschaft ist heilfroh, die MieterInnen zu behalten und die Verluste zu minimieren. Immer noch besser als Leerstand, meint die Geschäftsführung. Rund ein Fünftel der 2400 Plattenbauwohnungen in Löbau ist unbewohnt. Die Mieter sind glücklich, bleiben zu können. Das Landratsamt, zuständig für das Arbeitslosengeld II, ist froh, keine teuren Umzüge zahlen zu müssen. Wohin auch: Kleinwohnungen sind Mangelware.

Außerdem richtet sich die Wirklichkeit nicht haargenau nach dem Buchstaben des Gesetzes. Es geht in Löbau das Gerücht um, einige Zimmer würden durchaus noch benutzt, wenn auch nicht bezahlt.

Karla Meinert hat im ausgesperrten Zimmer noch einen Schrank und einen Schreibtisch stehen. "Ich soll alles wegräumen, aber ich weiß nicht wohin", sagt sie. Außerdem hat man ihr einen Schlüssel für den Notfall gelassen. Es könnte ja ein Brand, Rohrbruch oder sonst etwas sein. Ab und an lässt sie frische Luft ins Zimmer, damit es nicht mufft. Es sei schon merkwürdig, sagt sie: "Lüften darf ich, wohnen nicht."

zum Anfang

 

Isco:

Verschwundener Vertrag 'heimgekehrt'?

Bereits im GBE Nr. 180 haben wir über die KollegInnen von ISCO Precision Optics berichtet. Auf geheimnisvolle Art und Weise ist bei der Übernahme der Firma durch einen Schweizer Investor der Tarifvertrag "verschwunden". Die KollegInnen haben es sich aber nicht bieten lassen, dass ihnen so sang- und klanglos die Butter vom Brot genommen werden sollte – im Gegenteil. Als die IG Metall im Januar zu einer Demonstration gegen die Rente mit 67 aufrief, da haben die Isco-OptikerInnen die Gelegenheit wahrgenommen, ihren Chefs mit einem Warnstreik zu zeigen, dass es ihnen ernst ist mit der Forderung nach einem Anerkennungstarifvertrag. Zumal sie bis dahin von der 3%igen Erhöhung des Jahres 2006 auch noch nichts gesehen hatten. Trotz der Entschlossenheit der KollegInnen ist die Firmenleitung noch einmal richtig in den Ring gestiegen. Sehr feinfühlig war sie allerdings nicht, als sie zu den Verhandlungen eine Beraterin aus der Sozietät Dr. Schneider mitbrachte. Diese Anwaltskanzlei hat sich auf die 'Beratung' von Firmen spezialisiert, die den Tarifvertrag kippen wollen. Weitere Spezialität der sauberen Anwälte: das Stürzen von Betriebsräten und effektive Kündigungen. Nach Presseberichten gibt die Kanzlei jährlich ca. 700 Seminare mit so viel versprechenden Titeln wie: "In Zukunft ohne Betriebsrat", "Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich" oder "Die besten Kündigungsstrategien".

Diese Provokation hat aber nicht verfangen – die IG Metall hat sich schlicht geweigert, in Anwesenheit von solchen Lohndrückern zu verhandeln. Und die KollegInnen haben sich nicht davon abbringen lassen, dass sie einen verlässlichen Tarifvertrag haben wollen – auch wenn den Beteiligten klar ist, dass es der Firma nicht so glänzend geht. Die hochspezialisierten Kinoobjektive z.B. für die Breitleinwand-Projektion, die in Göttingen hergestellt werden, finden im schwierigen Kinomarkt zur Zeit weniger AbnehmerInnen als erhofft. Und die Erschließung anderer Märkte ist nun mal nicht von einem Tag auf den anderen zu bewerkstelligen. Daher sieht ein Einigungsentwurf, den es jetzt zwischen IG Metall und der Geschäftsführung gibt, auch gewisse Zugeständnisse vor:

  • Die Era-Strukturkomponente von 2,79% wird nicht bezahlt und mit der Einführung der neuen Era-Tarife kann sich die Firma zwei Jahre länger Zeit lassen.
  • Die tariflichen Einmalzahlungen (400 Euro in 2007 und 0,7% in 2008) entfallen.
  • Der Ausgleichszeitraum für flexible Arbeitszeitkonten wird auf 3 Jahre ausgedehnt.

Das Wichtigste aber ist, dass der IG-Metall-Tarif im übrigen anerkannt wird. Dies ist ein schönes Zwischenergebnis für die KollegInnen, die gezeigt haben, dass man mit Geschlossenheit auch dann etwas erreichen kann, wenn die Geschäftsleitung sich etwas merkwürdige 'Freunde' zu Hilfe holt. Bleibt zu hoffen, dass jetzt nicht mehr lange 'rumgezickt' wird, sondern endlich eine Unterschrift unter den Vertrag kommt.

zum Anfang

 

Linkspartei:

Auf der Retro-Welle ins Regierungsamt?

Als SPD-Dissidenten im Januar 2005 die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) gründeten, machte dies Schlagzeilen. Als sie eine Listenverbindung mit der PDS eingingen und in Fraktionsstärke in den Bundestag einzogen, machte dies wieder Schlagzeilen. Doch im politischen Alltag war von der neuen Linkspartei entweder wenig oder nichts Aufregendes zu hören. Der formelle Zusammenschluss von WASG und PDS erinnerte mit seinem bürokratischen Gezerre stark an SPD bzw. SED-Parteitage und wirkte insofern reichlich anachronistisch. Auch die schrillen Zwischentöne, die mitunter von der WASG-Basis zu hören waren, vermittelten weniger Aufbruchstimmung als Erinnerungen an die Anfangsjahre der Grünen.

Damit war eine paradoxe Situation entstanden: Einerseits machten Proteste gegen Sozialabbau, erhebliche Rückgänge in der Wahlbeteiligung und dramatische Mitgliederverluste der SPD, in begrenztem Umfang auch bei der CDU, deutlich, dass sich weite Bevölkerungskreise von den etablierten Parteien und ihrer unisono betriebenen Umverteilungspolitik von unten nach oben nicht vertreten fühlten. Andererseits vermochte es die Linke nicht, diesen Unmut aufzugreifen und daraus eine politische Kraft zu formen. Vom politischen Mainstream weitgehend unbeachtet, dümpelte der linke Parteiaufbau vor sich hin – bis zur Landtagswahl in Bremen. Während SPD und CDU erhebliche Verluste hinnehmen mussten, erreichte die Linke 8,4% der Stimmen. Ein Ergebnis, mit dem sie selber nicht gerechnet hatten.

Seitdem beschäftigt sich die politische Klasse mit der Frage, ob es in absehbarer Zeit auf Länder- oder sogar Bundesebene zu Rot-Rot-Grünen Koalitionen kommen werde. CDU und FDP warnen die SPD vor einem Linksruck, weil ihre eigene Schwäche weniger auffällt, solange eine unter Schröder weit nach rechts gerückte SPD sich selbst zerstört. Um Kontinuität und damit wenigstens etwas Glaubwürdigkeit zu wahren, hält SPD-Chef Beck an dem von Schröder eingeleiteten Rechtskurs fest und überlässt es anderen in der Partei, die künftige Zusammenarbeit mit der Linken vorzubereiten. In dieser Dissonanz zwischen Parteiführung und Hinterbänklern liegt die wirkliche Kontinuität; wie in der "guten alten SPD" redet alles durcheinander und niemand weiß, wo es politisch hingehen soll. Diesbezüglich äußern sich die Linkspartei-Chefs Gysi und Lafontaine sehr viel eindeutiger: Rot-rot-grün ist die Zukunft. Und wenn es dazu kommt, ist wirklich wieder alles beim alten: Das rot-grüne Projekt aus den 1980er Jahren ruht dann eben nicht mehr auf zwei sondern drei formal unabhängigen Parteien. Eine davon repräsentiert auch die, um mit Gysi zu sprechen, in der Bundesrepublik angekommene Ostwählerschaft. Links der Mitte wird wieder viel diskutiert und rechts der Mitte auf dünner Wählerbasis regiert.

Der Versuch der Linken, die zerstreute Opposition gegen Sozialabbau und Profitförderung politisch zu bündeln und damit wirksam zu machen, ist vollkommen richtig. Der großen Zahl derer, die mit der Regierungspolitik nicht übereinstimmen, fehlt eine politische Stimme. Weniger überzeugend ist es dagegen, diese Sammlungsbewegung auf Grundlage strategischer Konzepte zu verfolgen, die von SPD und Grünen sofort fallengelassen worden sind, als sie 1998 ein Regierungsbündnis eingegangen sind. Natürlich kann man in der Anpassung an den neoliberalen Zeitgeist, die Schröder und Fischer ihren Parteien aufgezwungen haben, einen Verrat an Parteimitgliedern und Wählerschaft sehen. Entscheidender als die persönliche Niedertracht von Spitzenpolitikern ist jedoch die Frage nach den sozialen Kräfteverhältnissen, welche Regierungspolitik in eine neoliberale oder eine sozialstaatliche Richtung drängen. Rot-Grün hatte 1998 zwar eine Regierungsmehrheit gewonnen; dahinter standen aber keine kampfbereiten Klassenkampf-Bataillone, die die neue Regierung zur Umsetzung ihrer sozial-ökologischen Wahlversprechen hätte zwingen können.

Auf der anderen Seite konnte das organisierte Unternehmertum die ihm gehörenden Medien und eine Vielzahl persönlicher Kontakte erfolgreich einsetzen, um die Regierung auf ihre neoliberale Seite zu ziehen. Solchen Klassenkampf-Theorien sind den Chefstrategen der Linken allerdings fremd. Sie scheinen vielmehr der Vorstellung anzuhängen, es gäbe eine Art Speisekarte, aus der sich politische Menüs von Neoliberalismus über Sozialliberalismus bis zu demokratischem Sozialismus auswählen und ggf. auch miteinander kombinieren lassen.

Die Popularität derartiger Ideen kommt nicht von ungefähr. Die politische Generation, der Lafontaine, Gysi und andere Links­strategen angehören, ist mit einem wirtschaftspolitischen Modell groß geworden, demzufolge Parteien und Regierungen je nach ihren jeweiligen Zielvorstellungen zwischen Antiinflationspolitik mit negativen Beschäftigungseffekten und einer expansiven Politik wählen können, sofern sie für letztere höhere Inflationsraten als negative Begleiterscheinung von Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum zu akzeptieren bereit ist. Aus dieser Perspektive muss die SPD nur davon überzeugt werden, die von Lafontaine und der Linkspartei als richtig erachtete Politikauswahl zu treffen. Die Generation junger Aktivisten, die innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung gegen den neoliberalen Einheitsbrei die Möglichkeit einer anderen Welt behauptet hat, fremdelt zwar häufig mit dem altbackenen Keynesianismus von Lafontaine und anderen Altpolitikern, hat aber selbst keine darüber hinausgehenden Politikvorstellungen entwickelt. Ein halbwegs stimmiges Konzept sozialistischer Wirtschaftspolitik ist weder aus den Sozialforen und Sommerakademien der globalisierungskritischen Bewegung noch aus diversen Arbeitskreisen der PDS hervorgegangen. Wenn immer mehr Menschen nach Alternativen zur neoliberalen Globalisierung suchen und der Keynesianismus das einzig ausgearbeitete Gegenmodell darstellt, fragt es sich allerdings, weshalb dieses nicht einmal innerhalb der Linkspartei unumstritten ist. Es gibt dort ja auch Strömungen, die glauben, neoliberale Politik mit sozialistischem Antlitz machen zu können und andere, die, von langwierigen Programmdebatten entnervt, ganz auf strategische Überlegungen verzichten wollen. Je nach Temperament lässt sich ja trotzdem an den Sozialismus als ideelle Lösung irdischer Probleme glauben. Leicht können solche Tendenzen als Wunschdenken, Opportunismus oder theoretische Uneinsichtigkeit abgekanzelt werden. Man kann hierin aber auch einen Hinweis darauf sehen, dass im Modell eines keynesianischen Wohlfahrtsstaates nicht die Interessen all derer gebündelt werden können, die von der Politik des Neoliberalismus in durchaus unterschiedlicher Weise negativ betroffen werden.

Volksvertreter oder Staatsrepräsentanten

Die Linkspartei tritt mit dem Anspruch an, soziale Interessen zu vertreten, die im neoliberalen Einerlei der etablierten Parteien keinen Platz finden. Angesichts eines Wohlfahrtsstaates sowie eines politischen Systems, dessen soziale Basis sich immer mehr in Richtung kleiner und großer Vermögensbesitzer verschiebt und dabei immer mehr Menschen ausschließt bzw. zur bewussten Abwendung von diesem System treibt, gibt es dafür sicherlich Bedarf. Der Gründungskonsens der Linkspartei besteht denn auch darin, der Unterrepräsentation von Lohnabhängigen und Beziehern von Transfereinkommen entgegenzutreten und deren mögliche Hinwendung zu rechtsradikalen Positionen zu verhindern. Artikulation und Verteidigung sozialer Interessen ist in dieser Perspektive ein Beitrag zur Demokratisierung der Bundesrepublik, die politisch gegenwärtig durch neoliberalen Totalitarismus mit der Option auf einen rechtsradikalen Antiliberalismus geprägt ist.

Ob dem hochgesteckten Anspruch, eine soziale oder gar sozialistische Demokratie zu befördern durch die formale Gründung einer Partei bzw. den Zusammenschluss einer Partei und eines Wahlvereins sowie der anschließenden Suche nach Koalitionspartnern genüge getan werden kann, darf allerdings bezweifelt werden. Die Geschichte der SPD, von der Lafontaine hofft, er könne sie mittels der Linkspartei zurückerobern wie einstmals Napoleon von Elba nach Frankreich zurückkehrte, lehrt jedenfalls Anderes. Als Oppositionspartei während des Nachkriegsaufschwungs trieb sie die CDU zu weitergehenden sozialen Reformen als diese auf Grundlage ihrer internen Kompromisse zwischen christlicher Arbeiterschaft, altem Mittelstand und Großbürgertum zustande gebracht hätte. Nachdem das Ende dieser Prosperitätsphase den vormals bestehenden Sozialstaatskompromiss ausgehöhlt und den Aufstieg des Neoliberalismus befördert hatte, konnte eine oppositionelle SPD die von der konservativ-liberalen betriebene Gegenreform immerhin in Grenzen halten. Umgekehrt hat es die Regierungs-SPD in den 1970er Jahren nicht vermocht, wie die damalige Parteilinke hoffte, den Wohlfahrtsstaat unter Krisenbedingungen zum Ausgangspunkt sozialistischer Transformationen zu machen. Ebenso wenig konnte die Parteirechte den Sozialstaatskonsens durch Konzessionen an eine zunehmend aggressiv auftretende Bourgeoisie bewahren. Zerrissen zwischen diesen beiden strategischen Optionen trugen schließlich beide Parteiflügel zusammen zum Aufstieg der neoliberalen Hegemonie bei, die sich freilich erst unter der rot-grünen Koalition vollständig durchsetzen konnte. Eine effektive Opposition kann offenbar mehr erreichen als eine schwache Regierung. Dafür ist allerdings mehr erforderlich als die politisch organisierte Hoffnung auf die Wiederkehr von Wirtschaftswunder und Sozialstaatskonsens. Derartige Traumbilder hat die CDU ihrer Gefolgschaft 16 Jahre lang präsentiert und es danach der SPD überlassen, aus der Erschöpfung sozialstaatlicher Utopien die Notwendigkeit eines nunmehr ungehemmten Neoliberalismus abzuleiten und dem verdutzten Wahlvolk zu verkünden. Ohne die Wiedergewinnung sozialer Utopien, die sozialstaatliche Kompromisse einschließen können aber auch darüber hinausgehen sollten, lassen sich weder Wähler noch Mitglieder, von Aktivisten ganz zu schweigen, für linke Politik gewinnen. Nachdem sich die linke Volkspartei SPD in eine mittelklassige Wahl- und Medienmaschine verwandelt hat, ist es Zeit für einen klassenpolitischen Neubeginn von links. Auch dafür hält die SPD-Geschichte ihre Lektionen bereit. Man mag weiterhin darüber streiten, ob die deutsche Sozialdemokratie Arbeiterinteressen verraten oder sie im Wohlfahrtsstaat wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht hat. Es sollte aber kein Zweifel darüber bestehen, dass es wesentlich sozialdemokratische Organisationen waren, in denen Arbeiter unterschiedlicher Herkunft, Qualifikation und Tätigkeiten Räume gegenseitiger Anerkennung und gemeinschaftlicher Suche nach politischen Perspektiven geschaffen haben. Nur auf der Grundlage einer solchen linken Zivilgesellschaft ist der Aufbau einer Partei möglich, welche die Interessen ihrer Mitglieder und Wähler wirkungsvoll im Parlament vertritt und auch über die eigene Basis und den institutionalisierten Politikbetrieb ausstrahlt. Wenn eine entsprechende Basis fehlt oder eine Partei losgelöst von dieser agiert, wird sie sehr schnell von anderen im Staatsapparat fest verankerten Interessen absorbiert. In diesem Fall wird sie nicht für soziale Gerechtigkeit und ökologischen Umbau kämpfen, sondern ihrer, dann allerdings sehr schnell kleiner werdenden Gefolgschaft, erklären, unter Bedingungen globaler Konkurrenz hätten die Belange von Beschäftigten, Arbeitslosen, Alten, Rentnern und Mutter Natur zurückzustehen. Diesen Weg haben SPD und Grüne in der Vergangenheit beschritten. Wünschen wir der Linkspartei, dass sie fortschrittliche Traditionen, die in völlig entstellter Form in der DDR zur Herrschaft und in der alten BRD unter die Räder gekommen waren, selbstkritisch verarbeiten und den Bedingungen der Gegenwart anpassen wird. In den Worten Johannes R. Bechers: Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.

zum Anfang

 

Zwangsarbeit im Landkreis Göttingen 1933- 1945

Zeitzeuginnengespräch mit Wiktorja Delimat

In der vergangenen Woche wurde die Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter durch die Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" offiziell für abgeschlossen erklärt. An 1,7 Millionen Menschen wurden im Schnitt 2.500 Euro gezahlt.

Mit dem Entschädigungsprozess ist das Leid dieser über lange Jahre "vergessenen Opfer" des Nationalsozialismus ins Blickfeld gerückt – mit dem Abschluss der Zahlungen sollte die Aufmerksamkeit für ihre Geschichte nicht aufhören. Was bedeutete Zwangsarbeit im NS konkret für die Betroffenen? Und warum mussten sie so lange auf eine Geste der Anerkennung warten? Über diese Fragen wird die ehemalige Zwangsarbeiterin Wiktorja Delimat am 20. Juni um 19 Uhr im DGB-Haus Göttingen sprechen.

Wiktorja Delimat wurde 1940 als Jugendliche aus ihrem polnischen Heimatdorf zur Zwangsarbeit ins "Reich" verschleppt. Nach einer gelungenen Flucht wurde sie 1942 wieder aufgegriffen und in den Landkreis Göttingen deportiert. Hier wurde sie zunächst bei der alljährlichen Kampagne in der Zuckerfabrik Obernjesa eingesetzt; anschließend war Wiktorja Delimat über zwei Jahre bis zur Befreiung Zwangsarbeiterin auf einem Hof in Ebergötzen.

Nach der Befreiung blieb Wiktorja Delimat in der Region. Bereits in den frühen 1960-er Jahren hat sie auf juristischem Wege versucht, eine Entschädigung für das erlittene Unrecht zu erhalten – vergebens. Auf eine institutionelle Anerkennung ihrer Leiden und eine symbolische Entschuldigung musste Frau Delimat bis ins neue Jahrtausend hinein warten.

In dem Gespräch mit dem Göttinger Kulturwissenschaftler Günther Siedbürger und dem Medizinhistoriker Prof. Andreas Frewer wird Wiktorja Delimat über ihre Erfahrungen als Zwangsarbeiterin im Landkreis Göttingen berichten.

20. Juni um 19 Uhr im DGB-Haus Göttingen, Obere Masch 10, Platz der Synagoge


zum Anfang