Erkennungsdienstliche
Behandlung und Strafverfahren gegen einen Antifaschisten Das
Landgericht Göttingen hat am 27.11.2008 über die Beschwerde
eines Antifaschisten entschieden. Demnach ist eine von der politischen Polizei
und Staatsanwaltschaft angestrebte Erkennungsdienstliche (ED) Behandlung zulässig.
Nun droht dem 34-jährigen die erzwungene "Aufnahme von Lichtbildern bzw.
Portraitaufnahmen", sowie ein Strafverfahren wegen "Landfriedensbruch". Der
im Göttinger Bündnis gegen Rechts aktive Antifaschist hatte während
der Demonstration gegen Neonazistrukturen am 19.1.2008 in Bad Lauterberg als Ordner
der Demonstrationsleitung teilgenommen. Unmittelbar im Anschluss an die friedlich
und besonnen verlaufene Demonstration von über 700 Menschen wurde der Ordner
von einem Greiftrupp der Bereitschaftspolizei festgenommen und seine Personalien
aufgenommen. Mündlich wurde ihm eröffnet, er habe zu "Straftaten gegen
Personen und Sachen aufgewiegelt". Die Polizei Northeim/Osterode beschuldigt ihn
daraufhin des "Landfriedensbruchs". Bereits am 7. April 2008 sollte er beim 4.
Fachkommissariat (Staatsschutz), also der politischen Polizei, in Göttingen
erscheinen. Dort sollten "Fingerabdrücke, Handflächenund Handkantenabdrücke"
abgenommen werden, sowie "Lichtbilder bzw. Portraitaufnahmen" aufgenommen werden.
Bei Nichterscheinen drohte ein Kriminaloberkommissar in einem Schreiben vom 1.4.2008
an, diese Maßnahmen mit "unmittelbarem Zwang durchzusetzen". Mit Nachdruck
ist in diesem Verfahren vor allem die politische Polizei Northeim/ Osterode aktiv.
Deren Beamte forderten ihre Göttinger Kollegen sogar auf, bei Nichterscheinen
des Beschuldigten, doch einfach eine Hausdurchsuchung bei ihm durchzuführen. Gegen
diese Bedrohungen ging der Antifaschist juristisch vor. In einer ersten Entscheidung
vom 14.8.2008 folgte das Amtsgericht Göttingen der Argumentation seines Verteidigers.
Demnach gibt es keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Straftat, eine
ED-Behandlung sei ohnehin unverhältnismäßig. Oberstaatsanwalt
Heimgärtner ließ diese Entscheidung von einem anderen Richter am Amtsgericht
am 2.9.2008 wieder aufheben. Dieser macht sich nicht einmal die Mühe den
Namen des Beschuldigten in einen aus Textbausteinen bestehenden Beschluss aufzunehmen.
Daraufhin wurde der Fall vor dem Landgericht Göttingen weiter verhandelt
und nun entschieden. Zugleich solidarisierten sich BündnispartnerInnen aus
dem Göttinger Bündnis gegen Rechts mit dem Beschuldigten. Eine erste
Version dieses Briefes wurde an die verantwortlichen Polizeibeamten in Göttingen
und Northeim/Osterode gerichtet. Nach wie vor stellen wir Unterzeichnerinnen und
Unterzeichner fest: Der gesamte Demonstrationsverlauf am 19.1.2008 in Bad Lauterberg
war von einem unverhältnismäßig massiven Polizeieinsatz gekennzeichnet.
Anreisende Busse wurden verzögernden Vorkontrollen unterzogen, bei denen
die Polizei versuchte die Personalien aller DemonstrationsteilnehmerInnen aufzunehmen.
Die Demonstration wurde in ein einschließendes, teils Schulter an Schulter
enges, Polizeispalier genommen. Der gesamte Demonstrationsverlauf wurde, ohne
das eine konkrete Straftat benannt werden konnte, von der Polizei gefilmt. Der
repressive Polizeieinsatz in Bad Lauterberg war am 8.5.2008 Gegenstand einer Anfrage
der Fraktion Die.Linke im Niedersächsischen Landtag. In seiner Antwort konnte
Innenminister Schünemann keine besondere Bedrohung durch die südniedersächsische
Neonazi szene erkennen und bediente stattdessen Feind bilder gegenüber AntifaschistInnen.
Nur ein halbes Jahr später suchten Neonazis aus den Landkreisen Northeim
und Osterode mit Schusswaffen und Brandsätzen eine Auseinandersetzung mit
konkurrierenden Gleichgesinnten in der Tabledance Bar "Strip" in Göttingen!
Während die antifaschistische Demonstration in Bad Lauterberg von der Polizei
verzögert, überwacht und politischer Vermittlungsmöglichkeiten
beraubt wurde, konnten Neonazis am Rande, von der Polizei völlig ungehindert,
TeilnehmerInnen fotografieren. In den Wochen nach der Demonstration wurde jungen
Frauen aufgrund dieser "Erkenntnisse" der faschistischen "Anti-Antifa" mit Vergewaltigung
gedroht. Hinter den massiven Polizeisperren, die die ursprünglich angemeldete
Demonstrationsroute beschränkten, konnten sich gewaltbereite Neonazis im
Nazi-Tattooladen "Zettel am Zeh" in der Hauptstraße 175 versammeln und von
hier aus JournalistInnen bedrohen. OrdnerInnen der Demonstrationsleitung, die
diese Umstände gegenüber der polizeilichen Einsatzleitung und einzelnen
Beamten thematisierten, wurden ignoriert oder bedroht und in ihrer Bewegungsfreiheit
eingeschränkt. Ihnen wurde beispielsweise trotz Kenntlichmachung mit einer
Gewerkschaftsordnerarmbinde verweigert, das enge Polizeispalier zu verlassen.
So entstand ein ständiger Konflikt mit den eingesetzten Beamten. Die Demonstration
in Bad Lauterberg richtete sich gegen die im Südharz bestehenden Neonazistrukturen
und wurde politisch von über 20 Organisationen (Parteien, Gewerkschaften,
Bürgerinitiativen, Antifagruppen) und Einzelpersonen getragen. In einem vorab
veröffentlichten Demonstrationskonzept, in Presseinterviews und öffentlichen
Veranstaltungen wurde betont, dass es aus der Demonstration heraus nicht zu Angriffen
gegen Neonazis oder zu Eskalationen mit der Polizei kommen sollte. Wenn
es also geplant war und vollendet wurde, zwar den "Neonazistrukturen ihr ruhiges
Hinterland zu nehmen", nicht aber den "Landfrieden zu brechen", was ist dann der
Grund für Strafverfahren und Bedrohungen gegen AntifaschistInnen durch die
Polizei? Wir fragen die Verantwortlichen bei der Polizei, besonders die Staatsschutzabteilung,
was sie mit derartigen Maßnahmen erreichen wollen? Warum werden Antifaschisten
aus dem Bündnis gegen Rechts mit Strafverfahren überzogen und mit "unmittelbarem
Zwang" zur Durchsetzung einer erkennungsdienstlichen Behandlung bedroht? Wir befürchten,
dass es hierbei weniger um aufzuklärende Straftaten, sondern um Repression
gegen unliebsame Politikansätze geht. Wir
fragen die Verantwortlichen bei der Polizei: Welchen sachlichen Zusammenhang gibt
es überhaupt zwischen der angenommen Straftat "gegen Personen und Sachen
aufgewiegelt zu haben" und der Abnahme von Fingerabdrücken, Handflächen-
und Handkantenabdrücken, sowie der Aufnahme von Lichtbildern bzw. Portraitaufnahmen?
Wir befürchten hier einen erneuten Ausdruck der ausufernden staatlichen Datensammlungswut
gegenüber politischer Opposition und mittlerweile allen BürgerInnen.
Wir erwarten von der Polizei: 1.
Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens und die erklärte Rücknahme
der Aufforderung zur erkennungsdienstlichen Behandlung gegen den Antifaschisten
aus dem Bündnis gegen Rechts. 2. Die Löschung der bei der Anreise
und während der Demonstration gesammelten persönlichen Daten von DemonstrationsteilnehmerInnen,
insbesondere des Filmmaterials. 3. Ein Ende gängelnder und anti-demokratischer
Auflagen bei antifaschistischen Demonstrationen. 4. Eine Stellungnahme der
Polizei, in der sie den Sachverhalt aus ihrer Sicht schildert und aus der hervorgeht,
wie die Polizei beabsichtigt, künftig in vergleichbaren Fällen vorzugehen. Göttingen,
Dezember 2008 Diese Stellungnahme
wird getragen von: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVNBdA)
Kreisvereinigung Göttingen. Groner Bürgerinitiative Antifaschismus
(Grobian) Freundschaftsgesellschaft BRD – KUBA Attac - Regionsgruppe Göttingen
SPD Stadtverband Göttingen Mario Neukirch Linksjugend solid Göttingen
– Northeim ver.di Jugend Niedersachsen-Bremen Die Linke Kreisverband Göttingen
MDL Patrik Humke - Focks DGB Region Südniedersachsen–Harz Lothar
Hanisch DGB Regionsvorsitzender Rüdiger Deissel Jürgen Bartz
Stefan Christmann ver.di Jugend Südostniedersachsen Göttinger
Betriebsexpress Naturfreunde Ortsgruppe Göttingen Wohlfahrtsverband
Göttingen Gunnar Siebeke Rudolf Grote Verein zur Förderung
antifaschistischer Kultur e.V. Astrid Fratzke |