Vorbemerkung 2004
Der 1986 verfasste Text wurde aus Empörung über die Irreführung der Bevölkerung
durch die Informationspolitik der Behörden erstellt. Die daraus gezogenen
Konsequenzen, dass man unabhängige Meßkapazitäten forderte, damit sich
die Bevölkerung vor den am meisten belasteten Lebensmitteln schützen kann,
wurde von einigen Anti-AKW-Aktivisten damals arrogant abgetan: es ginge
darum die Dinger abzuschaffen, schützen könne man sich nicht. Dagegen
stand das Argument besorgter Eltern, dass sie unter den gegebenen Bedingungen
wenigstens die schlimmsten Belastungen für ihre Kinder vermeiden wollten.
Engagierte Eltern wandten sich von den damals noch kinderlosen Politaktivisten
ab und gründeten die "Elterninitiative gegen Radioaktivität"
- in diesem Zusammenhang ist dann die hier (in Teilen) dokumentierte Broschüre
entstanden.
Der
Text wurde damals noch mit Schreibmaschine verfasst, er wurde für die
Veröffentlichung in goest eingescannt, was allerdings immer einige Textfehler
produziert.
Die in der Papier-Broschüre
enthaltenen Punkte 6. bis 11. umfassten den Anhang mit Tabellen, Zeitungsausschnitten
usw. und sind in der vorliegenden Internetversion nicht enthalten. Es
handelt sich um die Abschnitte:
6. Starkverseuchte Milch wird zu Käse, Joghurt, etc. weiterverarbeitet
7. Meßwerte der Luft in Göttingen vom 29.4. - 13.5.8616
8. Einschätzungen und Meßwerte des Technischen Hilfswerks Göttingen
9. Beschreibung der Arbeitsachwerpunkte und apparativen Ausstattung des
Isotopenlabors bzw. Instituts für Biophysik
10. Tabelle mit den Meßwerten für Göttingen, 5.5.-5.6.
11. Tabelle mit den Meßwerten für Niedersachsen vom 15.5.- 24.5.1986
1. Katastrophenpolitik
Im Katastrophenplan
des Kernforschungszentrums Karlsruhe ist bereits eine Beruhigungsformel
enthalten, die der Bevölkerung nach einem Unfall mitgeteilt werden soll:
"Zur weiteren
Information der Bevölkerung ist insbesondere bekannt zu geben: Im Kernforschungszentrum
Karlsruhe in Leopoldshäfen ist eine Betriebsstörung eingetreten mit
Auswirkung auf folgende Gemeinden: (...............) Alle Maßnahmen
zur Beseitigung der Störung und ihrer Folgen sind bereits im Gange.
Es besteht kein Grund zur Aufregung.' (H.Kater, Atomkraftwerke aus ärztlicher
Sicht, Hameln 1978, S.32)
Wie kann man bei einem
Katastrophenfall in einem Atomkraftwerk eigentlich davon sprechen, dass
kein Grund zur Aufregung bestehe ? Und vor allem ist es verwunderlich,
dass man das bereits behauptet, wenn noch gar kein Unfall eingetreten
ist.
Ähnliche Lügen sind
uns erzählt worden nachdem der Katastrophenfall in Tschernobyl eingetreten
war. Der Verlauf der Ereignisse hat jedoch gezeigt, dass die Informationspolitik
des Katastrophenmanagements unglaubwürdig wird, wenn es nicht gelingt,
die Rechte auf Verlautbarungen zu zentralisieren. Denn nicht nur ausländische
Nachrichten auch Messungen durch verschiedene wissenschaftliche Institute,
unzensierte Presse- und Rundfunkmeldungen sowie dezentrale landespolitische
Maßnahmen im eigenen Land durchlöcherten die Informationspolitik der Bundesregierung.
Es ist zu befürchten, dass für die Zukunft Maßnahmen vorbereitet werden,
die die bundeseinheitliche Lüge ohne Widerrede ermöglichen sollen. Um
dies zu verhindern,müssen dezentrale, politisch unabhängige Institutionen
zur Messung von Radioaktivität geschaffen und eine weitergehende Gleichschaltung
der Massenmedien verhindert werden.
2. Katastrophenpolitik in Göttingen nach Tschernobyl
In der Zeit vom 27.4.
bis 5.5.86 wurde keine einzige offizielle Verlautbarung der Göttinger
Behörden bekannt, die sich mit der bevorstehenden bzw. bereits stattgefundenen
radioaktiven Verseuchung beschäftigt hätte. Man hätte gut glauben können,
die Region Südniedersachsen sei von der radioaktiven Wolke völlig verschont
geblieben. Es gab Leute in Göttingen die es besser wußten aber geschwiegen
haben. Am 30.4.86 wurde dem Zivilschutzamt der Stadtverwaltung Göttingen
auf Anfrage im Zentralen Isotopenlabor der Göttinger Uni mitgeteilt:
,,Die Messungen am
30.4. haben ergeben, dass ein Anstieg der Luftradioaktivität zu verzeichnen
ist." (Der Oberstadtdirektor (Vieten) der Stadt Göttingen (Hrsg),
Dokumentation zu den Auswirkungen des Reaktorunfalls in der UdSSR vom
30.4.-30.5.B6) Dies ist nicht die einzige Information geblieben, die der
Bevölkerung gegenüber verschwiegen wurde.
Am Donnerstag den
1. Mai hielten sich viele Menschen wegen der Maidemonstration im Freien
auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Isotopenlabor ja bereits erhöhte Radioaktivitätswerte
festgestellt. Auch aus der Wettervorhersage war bekannt, dass die ersten
Ausläufer der radioaktiven Wolke wahrscheinlich am Donnerstag die Bundesrepublik
erreichen würden. Von keiner Seite erfolgte eine Warnung an die Bevölkerung
in der Region Göttingens.
Am Freitag
den 2. Mai forderte eine Protestversammlung vor dem Neuen Rathaus den
darin tagenden Rat der Stadt auf, Messungen der Radioaktivität vonehmen
und die Ergebnisse bekanntgeben zu lassen. Ein enstprechender
Dringlichkeitsantrag von AGIL und GLG wurde abgelehnt. Der Zugang zum
Ratssaal wurde von einer Polizeikette versperrt, die vom Gesetz her öffentliche
Sitzung wurde damit zur nicht-öffentlichen Sitzung. Gegen die Protestierenden
am Rathaus-eingang wurde Kampfgas aus Sprühflaschen eingesetzt. Die daraufhin
erfolgte Besetzung der Kreuzung am 82er Platz wurde durch knüppelschlagende
Polizisten beendet. An diesem Tag war die Radioaktivität in der Göttinger
Luft bereits auf das Tausendfache, nämlich von 0,003 auf 4,2 Bequerel
Jod 131 pro Kubikmeter angestiegen. Das eingeatmete Jod gelangt in die
Schilddrüse, besonders in Jodmangelgebieten wie die Region Göttingen.
Dieser Anstieg der radioaktiven Belastung muß der Verwaltung bekannt gewesen
sein, denn am 30.4.86 hatte der Leiter des Isotopenlabors Dr. Porstendörfer
dem Zivilschutzamt zugesagt, die Verwaltung sofort zu informieren, wenn
sich die Werte verschlechtern (Dokumentation der Stadt Göttingen, im Folgenden
zitiert als ,,Dokumentation")
VERÄNDERUNG DER MESSWERTE
im Zeitraum vom 30.4.-2.5.86 (2) in Millibecquerel pro Kubikmeter Luft
|
30.4.1986
|
2.5.1986
|
Jod 131 |
38,7
|
4260
|
Jod 132
Te 132
|
|
5900
|
Caesium
137 |
4,9
|
1300
|
Caesium
134 |
----
|
620
|
Entweder hat Herr
Porstendörfer seine Zusage nicht eingehalten oder die Verwaltung hat trotz
ihrer Kenntnis von stark angestiegenen Meßwerten geschwiegen und die Bevölkerung
uninformiert gelassen.
In der Beschreibung des "zeitlichen Ablaufs der von der Stadt Göttingen
getroffenen Maßnahmen" fehlen die Tage 1.5. und 2.5.86 , entweder
ist an diesen Tagen absolut nichts unternommen worden, hat die Verwaltung
keine neuen Meßwerte erhalten usw. oder man möchte einfach über die Entscheidungen
dieser Tage keine Auskunft geben. (Dokumentation)
Auch am Samstag den
3.5. hielt es die Verwaltung nicht für nötig, die Bevölkerung über die
Meßergebnisse zu informieren. Hatte etwa Herr Porstendörfer immer noch
nicht Bescheid gesagt ? An diesem Jag war herrlicher Sonnenschein nach
langer Schlechtwetterperiode. Viele Menschen hielten sich im Freien auf,
Kinder durften draußen spielen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich schon
radio-aktive Staubpartikel auf dem Boden niedergeschlagen, zu der äußeren
ionisierenden Gamma-Strahlung kam nun noch die Gefahr, dass Kinder Gegenstände
vom Boden aufhoben und in den Mund nahmen und so radioaktive Partikel
inkorporierten. Während einige AKW-Gegner eine Papptafel mit Warnungen
und Ratschlägen für Schutzmaßnahmen gegen die radioaktive Verseuchung
aufhingen blieben die Behörden weiterhin schweigsam: Keine Warnung, keine
Bekanntgabe von Meßergebnissen, keine Vorsorgemaßnahmen - nichts.
In der Nacht von Samstag
auf Sonntag (3.5./4.5) fiel der erste Regen. Nun waren die radioaktiven
Partikel aus der Luft auf den Boden niedergegangen, die Strahlungsintensität
die vom Boden ausging war über Nacht enorm angestiegen. In den Tagen danach
wurde im Landkreis Göttingen mehrfach der Grenzwert von 37000 bq pro Quadratmeter
überschritten, ab dem Schutzmaßnahmen bei Betreten notwendig sind. Stattdessen
ließen sich die Menschen durch das schöne Wetter zu ausgedehnten Spaziergängen
und Radtouren verlocken, legten sich ahnungslos ins Gras, ließen ihre
Kinder im Sandkasten spielen, begaben sich ungeschützt in den nachmittags
einsetzenden Nieselregen, der ebenfalls verseucht war. Am Sonntagabend
um 20.15 Uhr teilte der Leiter des sogenannten ,,ABC-Zuges", eine
Unteräbteilung des Technischen Hilfswerkes (THW), der Stadtverwaltung
mit, dass im Osten des Landkreises Radioaktivitätswerte festgestellt worden
seien, die ,,Anlass zu einer kritischen Beobachtung" gäben. (Dokumentation)
Seltsamerweise wurde dieser gemessene Wert nie bekanntgegeben. Auch später
als eine Tabelle mit den Meßwerten des THW veröffentlicht wurde, fehlte
dieser Meßwert. Jedenfalls ließ das THW einen Tag nach diesen hohen Meßwerten
im Göttinger Tageblatt verlauten: die Meßdaten ,,lägen geringfügig über
dem
Durchschnitt." (Artikel des GT vom 5.5. und vom 20.5.86)
Obwohl seit dem 30.4.
Meßwerte in der Stadtverwaltung bekannt waren, wurden erstmals am Dienstag
den 7.5.86 Meßwerte bekanntgegeben. Dabei scheint man sich im Nachhinein
auf Aussagen von Dr. Porstendörfer, Leiter des Isotopenlabors, berufen
zu wollen:
30.4.: ,,Nach Auskunft
von Herrn Dr. Porstendörfer besteht kein Grund zur Besorgnis. Es handele
sich um Strahlenwerte, die nicht gesundheitsschädlich seien."
4.5.: ,,Das Zivilschutzamt
setzt sicht telefonisch mit dem Leiter des Isotopenlabors, Herrn Dr. Porstendörfer,
in Verbindung und erhält von dort die Auskunft, ,dass im Hinblick auf
die Regenfälle am Wochenende mit einem Auswaschen der Luft und einem Anstieg
der Radioaktivität am Boden zu rechnen sei. Herr Dr. Porstendörfer schätzt
die Lage auch nach der zu erwartenden Erhöhung der Bodenwerte als nicht
bedrohlich ein und meint, dass die erhöhte Strahlung tolerierbar sei."
(Dokumentation)
Anstatt die Meßwerte zu veröffentlichen, überläßt man die Bewertung
der Meßdaten einer einzigen Person, hört sich dessen Meinung telefonisch
an und entscheidet sich daraufhin, die Bevölkerung uninformiert zu lassen.
Hat also Herr Porstendörfer darüber entschieden, welche Strahlenbelastung
für die 130 000 Menschen in Göttingen tolerierbar ist ?
Auch in der Nacht
von Sonntag auf Montag (4.5/5.5.) ging Regen nieder. Aus Kassel wurden
Meßwerte von 6 500 Bq/l Regenwasser bekannt, das Institut für biophysikalische
Chemie gab inoffizielle Hinweise auf ca. 10 000 bq/l Regenwasser für Göttingen
bekannt. Aber auch am Montag wurden keinerlei konkreten Meßwerte von den
Behörden bekanntgegeben. In einem Artikel des Göttinger Tageblattes wurde
allgemein über Messungen des JHW berichtet und folgende Bewertung wiedergegeben:
,,Die Meßdaten, die
das THW ermittelt hatte, lagen zwar gerinfügig über dem Durchschnitt,
dennoch bestünde kein Grund zur erhöhten Besorgnis." (Göttinger Tageblatt
5.5.86)
Das THW Göttingen
hatte mit seinem "ABC-Zug" am Sonntag Messungen im Landkreis
durchgeführt und kritische Werte besonders im Ostteil des Landkreises
festgestellt. Unter Auslassung der Meßdaten aus dem Ostteil wurden die
Werte erst am 20.5.86 im GT veröffentlicht. Im Gegensatz zu den
offiziellen Meldungen (3) war z.B. Oberkreisdirektor Engelhardt aufgrund
der Messungen sehr beunruhigt, wie er auf einer Veranstaltung der SPD
am 7.5. sagte - er habe ja selbst einen Säugling in der Familie. Nur warum
hat Herr Engelhardt nicht eine sofortige Veröffentlichung der Meßwerte
am Montag veranlaßt, nicht nur er hat einen Säugling in der Familie.
Am Montag den 5.5.
führte das THW Messungen im gesamten Landkreis durch. Abends um 19.30
Uhr gab Wolfgang Send, Leiter des THWs folgende Meldung an die Lokalpresse:
,,Von gestern auf
heute abend ist im Durchschnitt ein sehr leichter Anstieg der Belastung
festzustellen. DIe Werte sind allerdings je nach gemessener Materie wie
Wasser, Stein oder Gras unterschiedlich. An einigen Stellen sind die Werte
auch zurückgegangen."(Göttinger Tageblatt 6.5.86)
Auch diesmal wurden
nicht die dazugehörigen Meßwerte bekanntgegeben. Erst später wurde bekannt,
dass die Verseuchung des Bodens im Landkreis Göttingen
durchschnittlich 39 000 Bequerel pro Quadratmeter betragen hatte.
( nach Strahlenschutzverordnung dürfen verseuchte Gebiete oder Fläch~n
mit mehr als 37000 bq/m nur mit besonderen Schutzmaßnahmen betreten werden)
Die Berufsfeuerwehr
hatte eine Probe Regenwasser aus einer Pfütze entnommen und im Institut
für physikalische Chemie untersuchen lassen. Die Messung ergab eine radioaktive
Belastung von 5000 bq/l Auch dieser Meßwert wurde nicht veröffentlicht.
Erst am Dienstag den
6.5. wurde mit der Veröffentlichung vonMeßwerten begonnen, die über eine
automatische Telefonansage abgerufen werden konnten. Seltsamerweise wurde
am Dienstag abend 18.00 von dieser Ansage ein Meßwert von 200 bq/l Regenwasser
genannt, wo doch einen Tag vorher 5000 bq/l gemessen worden waren und
dieser Meßwert auch dem Zivilschutzamt bekannt gewesen sein müßte.
Allein die Technik
der automatischen Telefonansage hatte für die Stadt den Vorteil, dass
keine Nachfragen gestellt werden konnten, die Schallplatte bzw. das Tonband
leierte den Text stur runter. Außerdem wurde jeder Anruf registriert,
so dass man den Informationsbedarf der Bevölkerung quantifizieren konnte
: Am 6.5. bis 12.00 Uhr wurden bereits 2386 Anrufe gezählt, bis 7.5. waren
es dann 7859 Anrufe, bis zum 30.5. wurden insgesamt 14748 Anrufe gezählt.
Auf die Dauer kann so auch festgestellt werden, wieweit die Bürger inzwischen
wieder beruhigt sind und wie die einzelnen Verharmlosungsmaßnahmen wirken.
(Die beiden ersten Zahlen nannte Stadtrat Winters auf der SPD-Veranstaltung
am 7.5.86, die letzte Zahl wird in der Dokumentation der Stadt genannt)
Am Mittwoch den 7.5.
wurde die Ansage folgendermaßen eingeleitet: "Guten Tag meine
Damen und Herren ! Die Stadtverwaltung Göttingen teilt mit:Die Meßergebnisse
des zentralen Isotopenlabors vom Mittwoch den 7. Mai haben ergeben,
dass die Radioaktivität in der Luft keine wesentlich erhöhten Werte gegenüber
der normalerweise in der Natur vorhandenen gesamten Radioaktivität aufweist,
die in der Luft bei 10 bis 20 Becquerel pro Kubikmeter liegt."
Hier handelt es sich
wieder um eine Meisterleistung irreführender Formulierung.
Man hat zwar erhöhte Meßwerte festgestellt, glaubt aber dies nicht offen
sagen zu dürfen, ohne die Bevölkerung zu beunruhigen. Deshalb wählt man
eine andere, verharmlosende Formulierung : ,,keine wesentlich erhöhten
Werte". Erst ab dem 9.5.~als die Werte um ein vielfaches gefallen
waren,hieß es dann:
,,keine erhöhten Werte".
Vorher gab es offensichtlich erhöhte Werte, irreführend präsentiert als.
,,keine wesentlich erhöhten Werte".
Die Formulierung ,,keine
erhöhten Werte" wurde vom 9.5. bis 20.5. verwendet, gleichzeitig
hieß es aber in der Ansage täglich:"Die Meßergebnisse haben ergeben,
dass die Radioaktivität in der Luft weiter abgenommen hat." Entweder
es gibt keine erhöhten Werte oder es gibt erhöhte Werte, die täglich abnehmen
aber eine Erhöhung, die nicht da ist kann auch nicht täglich abnehmen.
Hauptsache es hört sich gut an, mag man da gedacht haben.
Auch der Vergleichswert
von 10-20 bq/Kubikmeter Luft sollte verharmlosend in die Irre führen.
Abgesehen davon, ob er überhaupt stimmt,wäre es wichtig gewesen, einen
Vergleichswert für die gemessenen Isotope Jod 131 und Caesium 137 anzugeben.
Hätte man z.B. die gemessenen Jod- und Caesiumwerte mit den gemessenen
Durchschnittswerten des Jahres 1983 verglichen, hätte dies ja zu einer
Beunruhigung der Bevölkerung führen können - da hat man eben einen Vergleichswert
angegeben, der viel höher ist, das beruhigt.
|
Durchschnittswert
1983 |
Meßwert am
5.5.86 |
angebl. Meßwert
am 9.5.86 laut Telefon-Ansage |
Jod 131 |
0,0037 |
2,0000 |
0,03 |
Caesium 137 |
0,0000043 |
0,8600 |
0,004 |
Der arglose Zuhörer
der Ansage vergleicht dagegen die Angabe ,,10 bis 20 bq" mit den
Meßwerten 0,03 und 0,004 und befindet, sie seien unerheblich. Bei den
Meßwerten vom 5.5. oder gar vom 2.5. wären ihm allerdings dennoch Bedenken
gekommen, aber diese Werte wurden ja gar nicht veröffentlicht.
Schädlichkeiten
tolerierbar?
In der telefonischen Ansage wurde nach der
Durchgabe der Meßergebnisse eine Bewertung vorgenommen, die sich auf Kinder
bezog. Bei den allerersten Durchsagen am 6.5. um 11.00 Uhr und um 18.00
Uhr hieß es:
"Diese Werte lassen erkennen, dass
die zusätzliche Strahlenbelastung von außen, auch für Kleinkinder,
tolerierbar ist."
In der Zeit vom 7.5. bis 20.5. lautete die
Formulierung:
"Diese Werte lassen erkennen, dass die zusätzliche Strahlenbelastung,auch
für Kleinkinder, tolerierbar ist."
Am 21.5. hieß es: "Diese Werte lassen
erkennen, dass die zusätzliche Strahlenbelastung, auch für Kleinkinder,
unschädlich ist."
Ab dem 22.5. hieß es dann:
"Diese Werte lassen erkennen, dass die zusätzliche Strahlenbelastung,
auch für Kleinkinder unbedenklich ist."
(Dokumentation, Textvorlagen der Telefondurchsage (gelbe Blätter))
Die anfangs verwendete Formulierung ,,von
außen" wurde wahrscheinlich weggelassen, weil daraus geschlossen
werden konnte, dass die Strahlung "von innen", also die mit
der Nahrung etc. aufgenommene Strahlung ,,nicht tolerierbar" ist.
Das Wort ,,tolerierbar" legte die Vermutung nahe, dass es soviel
bedeutet wie unschädlich, ungefährlich. Allerdings war dieser Begriff
erst für Meßwerte vorgesehen, die noch niedriger lagen; erst dann am 21.5.
wurde die Strahlenbelastung als ,,unschädlich"' bezeichnet. Aber
auch hier folgte bald eine Abänderung, denn wenn etwas durch das Absinken
von Meßwerten ,,unschädlich" werden kann, dann könnte das ja heißen,
dass es vorher "schädlich" gewesen ist, diese Schlußfolgerung
wollte man verhindern, deshalb wurde dann der Begriff ,,unbedenklich"
eingeführt und beibehalten. Vielleicht hat er den Herrschaften deshalb
so gut gefallen, weil er die Aufforderung beinhaltet, nicht mehr darüber
nachzudenken - Dieser sprachkritische Ausflug ist notwendig in einer Gesellschaft,
die ein Lager für hochgiftigen, mörderischen Müll "Entsorgungspark"
und todbringende Raketen (MX) , "peacemaker" nennt.
Am 7.5., an dem die Telefonansage mitteilte,
die zusätzliche Strahlung sei auch für Kleinkinder tolerierbar, wurden
vom THW (wie erst später bekannt wurde) der Spitzenwert von 0,225 Milliröntgen
pro Stunde gemessen. Ein Wert, der dazu veranlassen sollte, die Kinder
vorläufig im Haus zu lassen, wo die äußere Strahlenbelastung wegen der
Entfernung zum Boden geringer ist.
Wie wenig die Verharmlosungspolitik auch
Rücksicht auf Kleinkinder nahm zeigt ein Schreiben der Bezirksregierung
Braunschweig vom selben Tag (7.5.) in dem es heißt:
"Für die Benutzung von Sandkästen, Spielplätzen
o.a. werden auch weiterhin keine besonderen Verhaltensregelungen empfohlen.
Dennoch sollte bei entsprechenden Anfragen sinngemäß folgende Aüskunft
erteilt werden:
,WER GANZ VORSICHTIG SEIN WILL, DER BRAUCHT SEIN KIND NICHT GERADE IM
SANDKASTEN SPIELEN ZU LASSEN.'(Fernschreiben Nr. l6BU)-l~92 0705 1223,
in: Dokumentation , blaue Blätter)
"Maßnahmen
zum Schutz der Kinder beunruhigen die Bevölkerung nur"
Von ähnlicher Qualität ist die Tatsache,
dass die Kindergärten zwar nie eine offizielle Warnung vor Radioaktivität
erhalten hatten, dass aber später ein Brief von Kellermann (Stadtverwaltung)
zusammen mit einem Brief der Bezirksregierung Braunschweig eingetroffen
sei, in dem die Aufforderung zur Aufhebung der getroffenen Vorsichtsmaßnahmen
enthalten war. Von Stadtrat Winters war sogar offen die Sperrung der Spielplätze
mit der Begründung abgelehnt worden, das würde Beunruhigung der Bevölkerung
hervorrufen.(Bericht einer Kindergartenleiterin am 9.6.86, Hearing der
Elterninitiative)
Herr Winters gehörte auch zu denjenigen,
die der Bevölkerung durch ,,Tapferkeit vor der Radioaktivität" ein
Beispiel an Unverzagtheit geben wollten:
,,In einigen Schulen Göttingens fiel die
bewährte Milchspeisung aus -Gotthard Ritter, Leiter des Veterinäramtes,
greift dagegen weiterhin unbesorgt zum weißen Trank. Kindergärten ließen
die Jüngsten nicht ins Freie -Horst Renner, Leiter der Göttinger Berufsfeuerwehr
schickt seine Sprößlinge nach wie vor zum Spielen in den Sandkasten. Mensagäste
mußten auf frische Beilagen zum Fleisch verzichten, weil das Studentenwerk
seit Montag keinerlei frischen Blattsalat mehr anbietet - Stadtrat Hans
Winters (u.a. Feuerwehr/ Katastrophenschutz) beißt immer noch ins (gewaschene)
knackige Grün."
(Zitat aus dem Anzeigenblatt ,,Blick" vom 7.5.86, Titelseite)
Bereits am 6.5. und dann auch am 7.5.
hatte die telefonische Tschernobylauskunft der Stadt darauf hingewiesen,
dass der "Verzehr von frischem Freilandgemüse" vermieden werden
sollte. Außerdem nahm Herr Winters noch am selben Tag an einer Veranstaltung
teil, auf der dringend vom Verzehr des "knackigen Grüns" abgeraten
wurde - ohne dass Herr Winters widersprochen hätte. Man kann nur hoffen,
dass niemand der \/erharmlosung auf den Leim gegangen ist. Zur Bewertung
des Blick-Artikels ist vielleicht noch wichtig zu wissen, dass das Anzeigenblatt
,,Blick", das angeblich in 95000 er Auflage kostenlos verteilt wird,
zum Göttinger Tageblatt gehört und dieses wiederum als Tochter des Madsackkonzern
der Albrecht-Regierung verbunden ist, z.T. durch Projekte in den "Neuen
Medien" wie Kabelfernsehen und Bildschirmtext.
Zurück zu Herrn Winters, da würde eigentlich
die Forderung nach einem Rücktritt naheliegen. Allerdings gibt es Gerüchte,
dass die FDP, der Winters angehört, selbst gerne Winters Posten vor der
Kommunalwahl neu besetzen würde, denn Winters geht bald nach der Wahl
in den Ruhestand und im Falle einer Mehrheit von SPD/Grünen hätte die
FDP keinen Einfluß mehr auf die Neubesetzung der Stelle. Während eine
Neubesetzung zum jetztigen Zeitpunkt nach der Wahl nicht mehr so einfach
rückgängig gemacht werden könnte, weil dann Abfindungen o.a. zu zahlen
wären. Also sollte man mit der Forderung nach Winters Rücktritt bis nach
der Wahl warten.
3. Katastrophenpolitik der Landesregierung
Bei den Landkreisen und kreisfreien Städten
handelt es sich um die unterste Stufe der strahlenschutzrechtlichen Instanzen.
Zentrale Kompetenzen sind bei den Landesregierungen angesiedelt. Diese
formale Zuständigkeit hat die Landesregierung Niedersachsen, insbesondere
das zuständige Ministerium für Bundesangelegenheiten (Minister Hasselmann)
dazu benutzt, auf noch unverschämtere Weise die Gefahren zu verschweigen
und zu verharmlosen, schließlich bestand die Gefahr für die Landesregierung
vor allem darin, dass eine Aufklärung über die Wahrheit ihre Chancen bei
der anstehenden Landtagswahl geschmälert hätte. Das \/erhalten des Niedersächsischen
Ministeriums für Bundesangelegenheiten wurde selbst von denjenigen kritisiert,
die sich uns gegenüber ebenso schweigsam und abwieglerisch verhalten haben.
Auf einer \/eranstaltung am 7.5.86 drückte Oberkreisdirektor Engelhardt
sein Unverständnis darüber aus, dass die Landesregierung am Samstag den
3.5. noch von 'leichter Radioaktivität" gesprochen habe und selbst
nach den Regenfällen noch gemeldet habe, es bestehe keine Gefahr für Kinder.
Bereits am 5.5. war Engelhardts Mißmut auch im Göttinger Tageblatt registriert
worden:
,,Als am Sonntagnachmittag ein seit Mittag
angekündigtes Fernschreiben des Innenministeriums (Niedersachsen) mit
Informationen zur Lage noch nicht beim Landkreis eingegangen war, wurde
Oberkreisdirektor ALexander Engelhardt aktiv. Er beauftragte das Technische
Hilfswerk (THW), Messungen in Stadt und Land vorzunehmen." (Göttinger
Tageblatt vom Montag den 5.5.86)
Wie bereits dargelegt, hatte Herr Engelhardt
es allerdings nicht für nötig befunden, die ermittelten Meßwerte sofort
an die Öffentlichkeit weiterzugeben.
Auch Oberstadtdirektor \/ieten stellt in
einem Schreiben an den FDP-Kreisverband und die CDU-Ratsfraktion am 12.5.
fest:
,,...dass bis zum heutigen Jage die für diesen gesamten Komplex zuständige
Niedersächsische Landesregierung keinen einzigen Meßwert für den südniedersächsischen
Raum veröffentlicht bzw. uns unmittelbar zur \1erfügung gestellt hat.
Die südlichsten Punkte an denen Messungen in Niedersachsen erfolgten,
sind Braunschweig und Grohnde bei Hameln." (Diese Briefe sind abgedruckt
in der Dokumentation der Stadt (graue Seiten))
Hätte \/ieten dafür gesorgt, dass die, der
Stadtverwaltung bekannten Meßergebnisse in der Zeit vom 30.4 bis 5.5.
veröffentlicht worden wären, dann wäre der protestierende Unterton der
zitierten Bemerkung etwas glaubwürdiger.
Angesichts der Tatsache, dass von den Bundes-
und Landesbehörden keine Unterstützung kam, konnte man nach dem 5.5. geradezu
froh sein, dass wenigstens die Meßergebnisse des Jsotopenlabors ab dem
7.5. mit den richtigen Zahlenwerten angegeben wurden - auch wenn sie mit
einer verharmlosenden Einleitung' und Bewertung verpackt durch die Telefonansage
präsentiert wurden. dass dies zustande kam ist durchaus nicht selbstverständlich
Frage, was wäre passiert, wenn nicht der öffent;liche Druck von außen
mit der Forderung nach \/eröffentlichung von Meßergebnisse"gekommen
wäre. Dieser Druck war entstanden durch die Demonstrationen und Proteste
vor dem Rathaus, aber auch dadurch, dass in Hörfunk, Fernsehen und Zeitungen
Meldungen gebracht wurden, die die Bevölkerung beunruhigten und ein starkes
Bedürfnis nach Informtionen über die konkrete Situation an ihrem Wohnort
erzeugten. Danach waren die massenhaften Telefonanrufe ebenfalls ein wichtiges
Moment des Druckes auf die Stadtverwaltung geworden. Dies sollte man in
Erinnerung behalten, wenn Herr Vieten im Nachhinein die \/eröffentlichung
der Meßergebnisse als seim fürsorgliches Verwaltungshandeln hinstellen
möchte. Vieten läßt zB. ein Dankesschreiben des Stadtdirektors von Einbeck
in der städtischen Dokumentation der Ereignisse abdrucken, in dem Stadtdirektor
Lampe Herrn Vieten für die Meßergebnisse dankt.
Außerdem beklagt sich Lampe noch einmal deutlich
über die Informationspolitik der Landesregierung, die die kleinen Städte
völlig hängengelassen habe: also Stadtdirektor Lampe (Einbeck) an Oberstadtdirektor
Vieten:
"Ich kann mir vorstellen, dass Sie die spärlichen und nichtssagenden
Informationen, die Ihnen von den Bundes- und Landesbehörden zugegangen
sind, veranlaßt haben, das Isotopenlabor der Universität Göttingen einzuschalten.
Sie sollen aber auch wissen, dass es in unseren kleineren Städten mit
Informationen noch trostloser bestellt war, zumal wir keine "Katastrophenschutzbehörden"
sind und deshalb darauf warten müssen, was von den Landkreisen an uns
weitergegeben wird. dass das nicht allzuviel war, hat wohl Herr Oberkreisdirektor
Dr. Engelhardt sehr deutlich gemacht. Ich habe den Eindruck, dass die
Oberbehörden von uns Kleinen überhaupt keine eigene Initiativen erwarten,
obwohl gerade bei uns die Bürger vor der Tür stehen und zumindest Auskunft
darüber haben wollen, was die Behörden zu tun gedenken oder was wir ihnen
raten können." (Brief vom 12.5., in: Dokumentation (herausgegeben
von \/ieten!))
Am Donnerstag den 15.5.86 wurde dann vom Niedersächsischen Ministerium
für Bundesangelegenheiten ein sogenanntes ,,Bürgertelefon" eingerichtet,
dessen Ansagetext die verharmlosende Verpackung des Göttinger Telefondienstes
noch übertraf und darüberhinaus auch noch völlig nichtasagende Darstellungen
der Meßergebnisse wählte. Der einleitende Ansagetext lautete:
,,Guten Tag meine Damen und Herren ! Hier ist das Bürgertelefon des Nieder-sächsischen
Ministeriums für Bundesangelegenheiten. Die Radioaktivität nach dem Reaktorunglück
in der UdSSR nimmt in Niedersachsen weiter ab, eine gesundheitliche Beeinträchtigung
ist auszuschließen."( Bürgertelefonansagetext vom 15.5.)
Und danach kommen so nichtssagende Darstellungen
der Meßergenisse wie z.B.: "Proben vom 1.5. bis 10.5.: Kopfsalat
4 bis 1000 Becquerei Jod 131." Da wußte man nun einen Höchstwert
und einen Tiefstwert für einen Zeitraum von 10 Tagen, d.h. man wußte eigentlich
gar nichts außer dass man am besten keinen Salat essen sollte, weil man
andererseits Gefahr lief, einen mit 1000 bq zu erwiscben. Aber dieser
Ansagetext wurde auch erst am 15.5. im Telefon wiedergegeben, also konnten
die klerte inzwischen noch höher oder noch niedriger sein. Der einleitende
Text sprach davon, dass eine gesundheitliche Beeinträchauszuschließen
sei und legte damit eine ganz bestimmte verharmlosende Interpretation
der völlig ungenauen Information über Meßergebnisse nahe.
Bei der Bekanntgabe konkreterMeßergebnisse
für die radioaktive Belastung von Gras gab es unter Hinweis auf Daten
der Physikalisch Technischen Bundesanstalt Braunschweig (PTB) dezente
Kritik im ßöttinger Tageblatt:
,,Die Werte der PTB liegen beim Gras deutlich
höher als die, die das Minis -tenum für Bundesangelegenheitenals Landesdurchschnitt
angegeben hat." (Göttinger Tageblatt von Pfingsten 1986) Dabei muß
man wissen, dass die PTB gewiß keine Anstalt ist, die gegenüber der Kernenergie
kritisch eingestellt ist, vielmehr tendiert sie selbst dazu, zu niedrige
Meßwerte anzugeben. vergleicht man z.B. die Messungen der Beta-Strahlung
pro Quadratmeter, dann unterscheiden sich die Meßergebnisse der PTB ganz
erheblich von denen des THW in Göttingen. Dabei sind die Abweichungen
so groß, dass nur schwerlich regionale Unterschiede dafür verantwortlich
sein können. Diese Vermutung wurde auch durch Verg1eichsmessungen in Braunschweig
selbst bestätigt. Das Institut für Nuklear-Meßtechnik und Dosimetrie Norddeutschland,
vertreten durch den Physiker Dieter Knoll, hat am 11.5. in Braunschweig
20 000 bis 70 000 Becquerel/Quadratmeter festgestellt , (In: STERN Nr.22,
22.5.86 , 5.31) das PTB hingegen hat für diesen Tag lediglich 5 900 Becquerel
bekanntgegeben.
VERGLEICH DER MESSERGEBNISSE VOM 11.5.86
PTB |
Institut für
Nuklear-Meßtechnik, |
THW |
bq/m2, Jod
131 im Raum Braunschweig |
bq/m2 in Braunschweig |
Betastrahlung
bq/m2 Landkreis Göttingen |
5900 |
20.000-70.000 |
10.000-33.000 |
Umso bedenklicher
stimmt es einen, wenn das Niedersächsische Ministerium für Bundesangelegenheiten
zu noch niedrigeren Meßwert-Angaben tendiert als die PTB.
Insgesamt verfolgte das Ministerium die Strategie,
das Problem auf eine Angelegenheit des radioaktiven Jod 131 zu reduzieren,
da man hier aufgrund dessen Halbwertszeit von 30 Tagen den Bürgern eine
dauernde Abnahme der Radioaktivität vorgaukeln konnte. Je mehr die Werte
für Jod 131 sanken, umso stärker wurde der Eindruck zu erwecken versucht,
dass damit auch das gesamte Problem Radioaktivität abnehme. Auf Meßwerteangaben
für Caesium verzichtete man weitgehend. Z.B. fehlten Angaben über die
Caesiumverseuchung von Rindfleisch. Die langfristigen Gefahren für die
Nahrungsmittel wurden, wie von allen anderen Behörden auch, völlig verschwiegen.
Da die Radioaktivität von Jod 131 dauernd abnahm, wurde dann am Samstag
den 24.5.86 im 'Bürgertelefon' des Ministeriums folgendes mitgeteilt:
,,Aufgrund der entspannten radiologischen
Situation wird die Berichterstattung unter dieser Nummer ab Montag den
26.Mai eingestellt. Kurzinformationen können Sie dann unter der Rufnummer
0511/800256 erhalten. Darüberhinaus werden über die Presse weiter Informationen
gegeben. Auf Wiederhören.'
Wer am Dienstag den 27.Mai die ,,Bürgertelefon"-Nummer
wählte, dem wurden dann Nachrichten über die Fußballweltmeisterschaft
verlesen. Die ganze \/eranstaltung des ,,Bürgertelefons" hatte offensichtlich
dazu gedient, entlang der Jod 131-Belastung eine ständige Abnahme der
Radioaktivität ,"nachzuweisen" um möglichst noch vor der Landtagswahl
das Problem als überwunden darstellen zu können. Am 19.6. teilt die städtische
Telefonansage mit, das \1eterinäramt Hannover habe für Cäsium 137 und
Cäsium 134 jeweils 50 bq/l Milch gemessen.
4 .Messungen im Rahmen der Katastrophenpolitik
So sehr die Katastrophenpolitiker die Bekanntgabe
konkreter Meßwerte gescheut haben als es darum ging, die Bevölkerung frühzeitig
zu informieren, sie selbst sind doch daran interessiert in Zukunft genaue
Meßdaten über die langfristige Verseuchung zu erhalten. So wurde bereits
mehrfach auf Bundesebene die Installation eines flächendeckenden Meßnetzes
ins Gespräch gebracht. In welche Richtung dabei die Informationen fließen
werden zeigt die Handhabung von 25 ,,Warnmeßdienststellen" des Bundesamtes
für Zivilschutz, die in Südbayern installiert sind
,,..die nach dem Reaktorunglück in der UdSSR
die erhöhte radinaktive Strahlung in der Luft mehrmals am Tag registrierten.
Die Meßergebnisse landeten beim Bundesinnenministerium in Bonn, nicht
jedoch beim Umweltministerium in München. Pressesprecher Gass: ,Ich hab
so ein Ergebnis nie gesehen.' "( Klaus Ott, Messungen am Umweltministenum
vorbei -Daten des Bundesamtes für Zivilschutz zur Radioaktivität standen
den landesbehörden nicht zur Verfügung, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.5.86)
"Bis Mitte letzter Woche, zehn Jage
nach dem Aufziehen der radioaktiven Wolke, gab es keine offiziellen Merkblätter
für die Bevölkerung - in einem Land in dem zu normalen Zeiten die Ministerien
Berge von Papier produzieren. Anfangs wurde sogar versucht, Meßwerte geheimzuhalten.
Immer deutlicher wiurde Ende letzter Woche, dass die bayrischen Behörden
schon frühzeitig über die Lefahr der Atomwolke informiert waren, diese
Information aber zurückhielten, die Werte herunterspielten und eine rechtzeitige
Warnung der Bevölkerung unterließen. Bereits am Mittwoch vorletzter Woche
hatte das Wetteramt in München einen Wert von 2700 Picocurie gemessen
(am Vorabend um 20 Uhr waren es noch 55 gewesen) gleichfalls am Mittwoch
setzte in München hochgradig verseuchter Regen ein, eine Warnung unterblieb,
obwohl die Lefahr längst intern vermeldet worden Dafür ging dem Wetteramt
in München am selben Tag ein Fernschreiben der Zentrale in Offenbach zu:
,Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass den Wetterämtern übermittelte Werte der gemessenen Radioaktivitäten
den Leheimhaltungsgrad VS/NFD haben und ausschließlich als Unterlagen
für die von den jeweiligen Landesregierungen zu gebenden Beratungen dienen.
Eine Weitergabe an die Öffentlichkeit ist untersagt."
Eine Ausiweitung des Meßnetzes nützt die
Bevölkerung solange nichts, wie nicht die Weitergabe der Meßergebnisse
an die Öffentlichkeit sichergestellt (Spiegel, Nr. 20, 1986, 5.21) ist.
Wenn von Behördenseite nun eine Ausweitung der Meßeinrichtungen betrieben
wierden sollte, dann wird dies wahrscheinlich unter die zentrale Zuständigkeit
des neu eingerichteten Bundesministeriums für Umweltschutz und Reaktorsicherheit
(Wallmann) gestellt IMerden.
Es durfte einige Probleme bereiten, einerseits umfangreiche Untersuchungen
und Messungen flachendeckend durchzufuhren, andererseits aber die Meßergebnisse
standig geheim zu halten. Konkret hat sich dieser Widerspruch bereits
in einem Fernschreiben der Bezirksregierung Braunschweig vom 27.5.86 ausgedruckt.
,,Nach dem Kernkraftwerksunfall in Ischernobyl
werden in einigen Landkreisen und Lemeinden Überlegunqen angestellt, eigene
Meßdienste zur Überiwachung der Radioaktivität in Luft, Boden, Wasser,
Bewuchs und tierischen sowie pfanzlichen Nahrungsmitteln einzurichten.
(....) Aufgrund vorstehender Überlegungen kann ein dezentralisiertes Meßnetz
(...) nicht empfohlen werden."
Am selben lag kommt nochmals ein Fernschreiben in dem steht als Nachtrag:
,,Mit diesen Ausfuhrungen wird nach meinem Dafürhalten ein langfristiges
Konzept ortsnaher Daten nicht in Frage gestellt.
Diese Überlegungen sind insofern für Göttingen
von Bedeutung, als es hier eine Reihe von wissenschaftlichen Einrichtungen
gibt, die bei der Durchfuhrung eines breit angelegten Untersuchungsprogrammes
herangezogen wurden und Professor Dietrich Harder, der als Mitglied der
Bonner StrahlenschutzKommission uber die zukunftigen Plane bestens informiert
sein durfte bereits bei der Stadtverwaltung Göttingen vorstellig wurde
mit dem Vorschlag eine kommunale Stelle für Messungen einzurichten. Da
der Charakter der Bonner Strahlenschutzkommission bekannt ist und auch
Prof. Dietrich Harder bereits als Unterzeichner eines Pro-Atomkraftwerke-Aufrufes
an die Bundestagsabgeordneten bekannt ist, fragt man sich, warum Prof.
Harder eine solche Forderung an die Stadt Lättingen heranträgt. Möchte
er vielleicht eine mit kommunalen Leldern finanzierte Einrichtung haben,
die als Meßdatenzuträger für zentrale Auswertungen dient ?
Nun sollte man niemandem die Fähigkeit zu
Lernprozessen absprechen, es ist jedoch recht unwahrscheinlich, dass Prof.
Harder die Forderung nach einer UNABHÄNGIGEN Einrichtung unterstutzt.
Wahrscheinlich versucht man sich auf die Einrichtung einer zusätzlichen
Meßkapazität im Isotopenlabor zu einigen, da die dort bereits vorhandene
Infrastruktur uberflussige Kosten vermeiden würde. Ob aber unter der Leitung
von Porstendörfer ein unabhängiges Meßprogramm und eine entsprechende
Öffentlichkeitsarbeit gewährleistet wäre darf bezweifelt werden
\/on seiten des Gesundheitsministeriums läuft
ein Versuch, die langfristigen Folgen der radioaktiven Verseuchung nach
Ischernobyl zu untersuchen. Ziel des Programmes ist nicht die Messung
von Lebensmitteln und die Warnung der Bevölkerung sondern Ziel ist die
Ausbreitung der Verseuchung von Menschen festzustellen, also ärztliche
Untersuchungsprogramme uber Zunahme an bestimmten Krankheiten infolge
Radioaktivität o.a. Von der Aufforderung zur Mitarbeit an diesem Programm
wird die Göttinger Uni nicht ausgespart bleiben.
1) Fernschreiben vom 27.5.86, in Dokumentation der Stadt Göttingen
Wir brauchen ein unabhängiges Labor für
Radioaktivitätsmessungen
1. In einer Zeit der Ungewissheit haben uns
die Politiker und Behörden total im Stich gelassen. Sie haben versucht,uns
die Gefährdung durch Radioaktivitat in der Luft zu verschweigen, sie haben
die Meßergebnisse nicht veröffentlicht, sie haben es versäumt, Warnungen
auszusprechen und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Erst als die äußere
Strahlenbelastung des Jod 131 zurückging haben sie mit der Veröffentlichung
von Meßiiuerten begonnen. In ihren öffentlichen Stellungnahmen haben sie
uns durch Verharmlosungen versucht irrezuführen und zu beruhigen, bis
heute verschweigen sie die Gefährdung durch langfristige radioaktive Verseuchung
unserer Nahrungsmittel. Deshalb ist ein Bedürfnis nach einer Einrichtung
entstanden, die von Stadtverwaltung, Landkreis, Bezirks- und Landesregierung
unabhängige Radioaktivitätsmessungen durch-führen und die Bevölkerung
darüber informieren kann.
2. Die radioaktive Gefährdung bestand anfangs
in der äußeren Strahlung, die von radioaktiven Teilchen in der Luft und
am Boden ausging. Gleichzeitig bestand eine Gefährdung durch das Einatmen
radioaktiver Teilchen mit der Luft. Während die Verseuchung von Oberflächen
mit mobilen Handmeßgeräten annäherungsweise festgestellt werden kann,
ist die Feststellung der verschiedenen strahlenden Stoffe in den Nahrungsmitteln
nur mihilfe von Laboreinrichtungen möglich. Ebenso erfordert die Bestimmung
der jeweils strahlenden Substanz solche Laboreinrichtungen. Ein mobiles
Handmeßgerät kann also z.B. die Radioaktivität auf der Oberfläche von
Gemüse feststellen, ist aber völlig ungeeignet festzustellen, wieviel
Caesium, Strontium oder gar Plutonium z.B. im Gras, in der Milch, im Fleisch,
im Getreide enthalten ist, denn die (Beta-)Strahlung der langlebigen radioaktiven
Stoffe reicht nicht sehr weit, so dass sie nicht bis an die äußere Oberfläche
eines Nahrungsmittels reichen. Werden diese radioaktiven Substanzen aber
im menschlichen Körper angereichert, schädigen sie die Zellen in unmittelbarer
Umgebung, töten sie ab oder lösen Wucherungen - Krebs -aus.
3. Die radioaktiven Substanzen verteilen
sich nicht gleichmäßig in unserem Ökosystem, sondern es ergeben sich unterschiedliche
Konzentrationen wenn sie über Jahre hinweg unsere Nahrungsketten durchlaufen.
So wird z.B. erst im Herbst wieder die Milch stärker verseucht sein, wenn
das radioaktive Heu vom Frühjahr 1986 im Stall verfüttert wird, oder das
Getreide wird erst nach vielen Monaten einen Schub in der radioaktiven
Verseuchung erfahren, wenn Caesium und Stron tium in den Wurzelbereich
der Pflanzen vorgedrungen sind. Ein anderes Beispiel sind die verschiedenen
Milch-Folgeprodukte Joghurt, Käse, Quark, Schokolade usw., die aufgrund
ihrer Zusammensetzung unterschiedliche radioaktive Konzentrationen aufweisen.
Die genaue Bestimmung, zu welchem Zeitpunkt, welches Nahrungsmittel besonders
hohe Konzentrationen aufweisen wird, erfordert eine genaue Analyse der
Nahrungsketten und ein daraus abgeleitetes Meßprogramm, das nur mit entsprechender
Laboreinrichtung und qualifiziertem Personal durchzuführen ist.
4. Eine solche Einrichtung kostet von der
apparativen Ausstattung her ca. 600000 DM als einmalige Investition. Däzu
kommen jährliche Kosten durch Wartung, Reparatur, Abschreibungen und Personalkosten.
Zur Finanzierung einer solchen Einrichtung sollten die Stadt und der Landkreis
Göttingen (evtl auch LK Northeim und LK Osterode) gemeinsam beitragen,
denn diese Einrichtung LMürde sinnvollerweise auch für die gesamte Region
tätig werden.
5. Die Unabhängigkeit der Einrichtung von
Stadtverwaltung, Landkreis(en), Landes-oder Bundesregierung muß durch
eine entsprechende Rechtsform sichergestellt werden, die eine Verhinderung
der Veröffentlichung von Meßergebnissen unmöglich macht. Deshalb ist es
wichtig, dass ein Kontrollorgan zwischen Behörden und Labor eingeschoben
wird, das die Verfolgung der genannten Ziele garantiert. Zu diesem Zweck
sind Personen in dieses Kontrollorgan zu entsenden, die eine kritische
Haltung gegenüber der Atomenergie haben. Ebenso müssen die im Labor tätigen
Wissenschaftler/innen durch ihre Persönlichkeit eine rückhaltlose Information
und Aufklärung der Bevölkerung - auch gegen massive \/ersuche der Einflußnahme
von Behörden - gewährleisten. Eine Besetzung der Stellen mit Befürwortern
von Atomkraftwerken scheidet deshalb von vorneherein aus. Noch vor der
Kommunalwahl 1986 soll ein vorbereitender Ausschuß mit stimmberechtigten
Mitgliedern aus Bürgerinitiativen erste Beschlußvorlagen erarbeiten.
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Artikel zu Tschernobyl in Goest
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