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Tschernobyl

Günter J. Schäfer

Katastrophenpolitik in Göttingen 1986:
Behörden und Tschernobyl

A. Zeitzeugenbericht Tage in Göttingen nach dem Tschernobyl-GAU
>Audio-Datei mit Tschernobylansage aus dem Jahr 1986 mp3

0. Vorbemerkung
1. Katastrophenpolitik.
2. Katastrophenpolitik in Göttingen nach Tschernobyl
    2.1. Schädlichkeiten tolerierbar?
    2.2. Maßnahmen zum Schutz der Kinder "beunruhigen die Bevölkerung"
3. Katastrophenpolitik der Landesregierung
4. Messungen im Rahmen der Katastrophenpolitik
5. Wir brauchen ein unabhängiges Labor für Radioaktivitätsmessungen

A. Zeitzeugenbericht Tage in Göttingen nach dem Tschernobyl-GAU

Am 26. April 1986 ging das Atomkraftwerk in Tschernobyl in die Luft. Radioaktive Wolken trieben über hunderte Kilometer weit und verseuchten die Luft, Pflanzen und Boden. Die grasfressenden Kühe produzierten radioaktiv belastete Milch; daraus ergaben sich belasteter Käse und andere Folgeprodukte bei denen z.B. Molke bzw. Molkepulver verarbeitet wurde . Ahnungs- oder arglose KonsumentInnen aßen weiterhin Spinat, Salat und anderes, was sie besser gelassen hätten. Türkische Nüsse waren hochbelastet, wurden aber zu dieser Zeit besonders billig gehandelt. Sand auf dem Spielplatz war auch radioaktiv belastet.
Die Behörden wiegelten nach Strich und Faden ab und taten erst einmal nichts, um die Menschen ordentlich aufzuklären; in einigen Fällen handelte es sich auch um eine Irreführung. Wir haben das in einer Broschüre dokumentiert,
die wir hier auf goest online gestellt haben.
Das radioaktive Jod in der Luft hat sicherlich viele Schilddrüsenerkrankungen zur Folge gehabt, die erst viel später schrittweise in Erscheinung treten. Einige Ärzte der Göttinger Klinik, so berichteten später Kliniksbeschäftigte, nahmen Jodtabletten ein, weil sie das Risikos des radioaktiven Jods kannten. Für eine entsprechende Vorsorge der Bevölkerung haben sie sich allem Anschein nach nicht eingesetzt. Jedenfalls war keine entsprechende Information dahingehend öffentlich geworden.
I
n Polen hingegen wurden solche Jodtabletten auch an die Bevölkerung verteilt, damit die Schilddrüse gar nicht erst radioaktives Jod zusätzlich aufnehmen kann.

Einen Tag nach dem Unglück in Tschernobyl, hingen wir auf dem Marktplatz eine Wandzeitung auf mit wichtigen Verhaltens-Ratschlägen als Erstmaßnahmen:

  • Nicht mit Schuhen radioaktive Substanzen von draußen in die Wohnung bringen, Schuhe draußen lassen,
  • Keine Wäsche draußen aufhängen da sich aufgewirbelter radioaktiver Staub oder Regen in der Wäsche niederschlagen kann,
  • Kein Blattgemüse aus dem Freiland essen, Vorsicht mit Milch, usw.

Bei einer Spontandemonstration wurden zum Protest Tüten mit Frischmilch, die man kurzerhand aus einem Supermarkt (ohne zu zahlen) herausgeholt hatte auf die Strasse geschüttet - es war klar, dass die Milch bei den hohen Grassverseuchungswerten bald ebenfalls verseucht sein würde oder schon war.
Ein "Witz" war, dass einer, der die Demo mit Megaphon steuerte dazu aufforderte, dass sich die Leute auf die Kreuzung Berliner Straße - Kasseler Landstrasse niedersetzen sollen. Das machten auch viele ohne zu bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt nach dem ersten Fall-Out eine sehr hohe Gamma-Strahlung auf der Straßenoberfläche vorlag. Also voll Stoff auf die radioaktive Strahlung mit dem Hintern - auch dort wo beim Röntgen normalerweise die Nachkommenschaft durch eine Bleischürze abgeschirmt wird.

Es dauerte eine Weile, bis den Leuten klar wurde, dass nach dem Jod noch Caesium, Strontium und Plutonium im Land runtergegangen sind. Heidelbeeren und Kartoffeln mit Belastungsspitzen bei Caesium und Strontium. Ein Anruf bei der Deutschen Krebshilfe mit der Frage, wer sich dort mit dem Zusammenhang zwischen Radioaktivität und Krebs beschäftigt und evtl. Ratschläge erteilen könne, traf auf Unverständnis, damit beschäftigt sich dort anscheinend niemand.
In der Folge forderte eine Elterninitiative in Göttingen, dass die unterschiedlichen Risiken der radioaktiven Belastung in Nahrungsmitteln und in der Umwelt gemessen und bekannt gemacht werden, damit man insbesondere für Kleinkinder besonders stark verseuchte Lebensmittel vermeiden könne. Ärgerlich war damals das ignorante Verhalten von einigen Leuten der Anti-AKW-Bewegung, die diese Versuche der Risikominimierung mit politischer Besserwisserei blockierten: Weil die Atomkraftwerke insgesamt abgeschafft werden sollen, bräuchte auch nichts gemessen zu werden - so deren Argumentation. Damals hatten diese Leute noch nicht selbst Kinder.
Später konnte durchgesetzt werden, dass aktuelle Meßwerte in Göttingen über eine Telefonansage bekannt gemacht werden. Aber diese Ansagen kamen zu spät und wurden so formuliert, dass sie letzendlich eine Verharmlosung darstellten. Z.B. hieß es auch noch widersprüchlich "Es gibt keine erhöhten radioaktiven Werte" und gleichzeitig "Radioaktivität nimmt weiter ab". Wenn es keine erhöhten Werte gibt - wieso können die dann noch abnehmen?? In der Broschüre ist der verharmlosende Sprachgebrauch dokumentiert. (Siehe weiter unten)

Das Beispiel einer der Ansagen, eine Aufnahme vom 7/8 Mai 1986, die u.a. auch eine Bemerkung zu einer Anti-AKW-Aktion enthält ist in einem Tondokument anzuhören ein Ausschnitt aus den gesammelten Aufnahmen der Ansagen über Radioaktivität aus dem "Bürgertelefon".

>Audio-Datei mit Tschernobylansage aus dem Jahr 1986 mp3

Vorbemerkung 2004
Der 1986 verfasste Text wurde aus Empörung über die Irreführung der Bevölkerung durch die Informationspolitik der Behörden erstellt. Die daraus gezogenen Konsequenzen, dass man unabhängige Meßkapazitäten forderte, damit sich die Bevölkerung vor den am meisten belasteten Lebensmitteln schützen kann, wurde von einigen Anti-AKW-Aktivisten damals arrogant abgetan: es ginge darum die Dinger abzuschaffen, schützen könne man sich nicht. Dagegen stand das Argument besorgter Eltern, dass sie unter den gegebenen Bedingungen wenigstens die schlimmsten Belastungen für ihre Kinder vermeiden wollten. Engagierte Eltern wandten sich von den damals noch kinderlosen  Politaktivisten ab und gründeten die "Elterninitiative gegen Radioaktivität" - in diesem Zusammenhang ist dann die hier (in Teilen) dokumentierte Broschüre entstanden.

Der Text wurde damals noch mit Schreibmaschine verfasst, er wurde für die Veröffentlichung in goest eingescannt, was allerdings immer einige Textfehler produziert.

Die in der Papier-Broschüre enthaltenen Punkte 6. bis 11. umfassten den Anhang mit Tabellen, Zeitungsausschnitten usw. und sind in der vorliegenden Internetversion nicht enthalten. Es handelt sich um die Abschnitte:
6. Starkverseuchte Milch wird zu Käse, Joghurt, etc. weiterverarbeitet
7. Meßwerte der Luft in Göttingen vom 29.4. - 13.5.8616
8. Einschätzungen und Meßwerte des Technischen Hilfswerks Göttingen
9. Beschreibung der Arbeitsachwerpunkte und apparativen Ausstattung des Isotopenlabors bzw. Instituts für Biophysik
10. Tabelle mit den Meßwerten für Göttingen, 5.5.-5.6.
11. Tabelle mit den Meßwerten für Niedersachsen vom 15.5.- 24.5.1986

1. Katastrophenpolitik

Im Katastrophenplan des Kernforschungszentrums Karlsruhe ist bereits eine Beruhigungsformel enthalten, die der Bevölkerung nach einem Unfall mitgeteilt werden soll:

"Zur weiteren Information der Bevölkerung ist insbesondere bekannt zu geben: Im Kernforschungszentrum Karlsruhe in Leopoldshäfen ist eine Betriebsstörung eingetreten mit Auswirkung auf folgende Gemeinden: (...............) Alle Maßnahmen zur Beseitigung der Störung und ihrer Folgen sind bereits im Gange. Es besteht kein Grund zur Aufregung.' (H.Kater, Atomkraftwerke aus ärztlicher Sicht, Hameln 1978, S.32)

Wie kann man bei einem Katastrophenfall in einem Atomkraftwerk eigentlich davon sprechen, dass kein Grund zur Aufregung bestehe ? Und vor allem ist es verwunderlich, dass man das bereits behauptet, wenn noch gar kein Unfall eingetreten ist.

Ähnliche Lügen sind uns erzählt worden nachdem der Katastrophenfall in Tschernobyl eingetreten war. Der Verlauf der Ereignisse hat jedoch gezeigt, dass die Informationspolitik des Katastrophenmanagements unglaubwürdig wird, wenn es nicht gelingt, die Rechte auf Verlautbarungen zu zentralisieren. Denn nicht nur ausländische Nachrichten auch Messungen durch verschiedene wissenschaftliche Institute, unzensierte Presse- und Rundfunkmeldungen sowie dezentrale landespolitische Maßnahmen im eigenen Land durchlöcherten die Informationspolitik der Bundesregierung. Es ist zu befürchten, dass für die Zukunft Maßnahmen vorbereitet werden, die die bundeseinheitliche Lüge ohne Widerrede ermöglichen sollen. Um dies zu verhindern,müssen dezentrale, politisch unabhängige Institutionen zur Messung von Radioaktivität geschaffen und eine weitergehende Gleichschaltung der Massenmedien verhindert werden.


2. Katastrophenpolitik in Göttingen nach Tschernobyl

In der Zeit vom 27.4. bis 5.5.86 wurde keine einzige offizielle Verlautbarung der Göttinger Behörden bekannt, die sich mit der bevorstehenden bzw. bereits stattgefundenen radioaktiven Verseuchung beschäftigt hätte. Man hätte gut glauben können, die Region Südniedersachsen sei von der radioaktiven Wolke völlig verschont geblieben. Es gab Leute in Göttingen die es besser wußten aber geschwiegen haben. Am 30.4.86 wurde dem Zivilschutzamt der Stadtverwaltung Göttingen auf Anfrage im Zentralen Isotopenlabor der Göttinger Uni mitgeteilt:

,,Die Messungen am 30.4. haben ergeben, dass ein Anstieg der Luftradioaktivität zu verzeichnen ist." (Der Oberstadtdirektor (Vieten) der Stadt Göttingen (Hrsg), Dokumentation zu den Auswirkungen des Reaktorunfalls in der UdSSR vom 30.4.-30.5.B6) Dies ist nicht die einzige Information geblieben, die der Bevölkerung gegenüber verschwiegen wurde.

Am Donnerstag den 1. Mai hielten sich viele Menschen wegen der Maidemonstration im Freien auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Isotopenlabor ja bereits erhöhte Radioaktivitätswerte festgestellt. Auch aus der Wettervorhersage war bekannt, dass die ersten Ausläufer der radioaktiven Wolke wahrscheinlich am Donnerstag die Bundesrepublik erreichen würden. Von keiner Seite erfolgte eine Warnung an die Bevölkerung in der Region Göttingens.

Am Freitag den 2. Mai forderte eine Protestversammlung vor dem Neuen Rathaus den darin tagenden Rat der Stadt auf, Messungen der Radioaktivität vonehmen und die Ergebnisse bekanntgeben zu lassen. Ein enstprechender Dringlichkeitsantrag von AGIL und GLG wurde abgelehnt. Der Zugang zum Ratssaal wurde von einer Polizeikette versperrt, die vom Gesetz her öffentliche Sitzung wurde damit zur nicht-öffentlichen Sitzung. Gegen die Protestierenden am Rathaus-eingang wurde Kampfgas aus Sprühflaschen eingesetzt. Die daraufhin erfolgte Besetzung der Kreuzung am 82er Platz wurde durch knüppelschlagende Polizisten beendet. An diesem Tag war die Radioaktivität in der Göttinger Luft bereits auf das Tausendfache, nämlich von 0,003 auf 4,2 Bequerel Jod 131 pro Kubikmeter angestiegen. Das eingeatmete Jod gelangt in die Schilddrüse, besonders in Jodmangelgebieten wie die Region Göttingen. Dieser Anstieg der radioaktiven Belastung muß der Verwaltung bekannt gewesen sein, denn am 30.4.86 hatte der Leiter des Isotopenlabors Dr. Porstendörfer dem Zivilschutzamt zugesagt, die Verwaltung sofort zu informieren, wenn sich die Werte verschlechtern (Dokumentation der Stadt Göttingen, im Folgenden zitiert als ,,Dokumentation")

VERÄNDERUNG DER MESSWERTE im Zeitraum vom 30.4.-2.5.86 (2) in Millibecquerel pro Kubikmeter Luft

 

30.4.1986

2.5.1986

Jod 131

38,7

4260

Jod 132

Te 132

 

5900

Caesium 137

4,9

1300

Caesium 134

----

620

Entweder hat Herr Porstendörfer seine Zusage nicht eingehalten oder die Verwaltung hat trotz ihrer Kenntnis von stark angestiegenen Meßwerten geschwiegen und die Bevölkerung uninformiert gelassen.
In der Beschreibung des "zeitlichen Ablaufs der von der Stadt Göttingen getroffenen Maßnahmen" fehlen die Tage 1.5. und 2.5.86 , entweder ist an diesen Tagen absolut nichts unternommen worden, hat die Verwaltung keine neuen Meßwerte erhalten usw. oder man möchte einfach über die Entscheidungen dieser Tage keine Auskunft geben. (Dokumentation)

Auch am Samstag den 3.5. hielt es die Verwaltung nicht für nötig, die Bevölkerung über die Meßergebnisse zu informieren. Hatte etwa Herr Porstendörfer immer noch nicht Bescheid gesagt ? An diesem Jag war herrlicher Sonnenschein nach langer Schlechtwetterperiode. Viele Menschen hielten sich im Freien auf, Kinder durften draußen spielen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich schon radio-aktive Staubpartikel auf dem Boden niedergeschlagen, zu der äußeren ionisierenden Gamma-Strahlung kam nun noch die Gefahr, dass Kinder Gegenstände vom Boden aufhoben und in den Mund nahmen und so radioaktive Partikel inkorporierten. Während einige AKW-Gegner eine Papptafel mit Warnungen und Ratschlägen für Schutzmaßnahmen gegen die radioaktive Verseuchung aufhingen blieben die Behörden weiterhin schweigsam: Keine Warnung, keine Bekanntgabe von Meßergebnissen, keine Vorsorgemaßnahmen - nichts.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag (3.5./4.5) fiel der erste Regen. Nun waren die radioaktiven Partikel aus der Luft auf den Boden niedergegangen, die Strahlungsintensität die vom Boden ausging war über Nacht enorm angestiegen. In den Tagen danach wurde im Landkreis Göttingen mehrfach der Grenzwert von 37000 bq pro Quadratmeter überschritten, ab dem Schutzmaßnahmen bei Betreten notwendig sind. Stattdessen ließen sich die Menschen durch das schöne Wetter zu ausgedehnten Spaziergängen und Radtouren verlocken, legten sich ahnungslos ins Gras, ließen ihre Kinder im Sandkasten spielen, begaben sich ungeschützt in den nachmittags einsetzenden Nieselregen, der ebenfalls verseucht war. Am Sonntagabend um 20.15 Uhr teilte der Leiter des sogenannten ,,ABC-Zuges", eine Unteräbteilung des Technischen Hilfswerkes (THW), der Stadtverwaltung mit, dass im Osten des Landkreises Radioaktivitätswerte festgestellt worden seien, die ,,Anlass zu einer kritischen Beobachtung" gäben. (Dokumentation) Seltsamerweise wurde dieser gemessene Wert nie bekanntgegeben. Auch später als eine Tabelle mit den Meßwerten des THW veröffentlicht wurde, fehlte dieser Meßwert. Jedenfalls ließ das THW einen Tag nach diesen hohen Meßwerten im Göttinger Tageblatt verlauten: die Meßdaten ,,lägen geringfügig über dem
Durchschnitt." (Artikel des GT vom 5.5. und vom 20.5.86)

Obwohl seit dem 30.4. Meßwerte in der Stadtverwaltung bekannt waren, wurden erstmals am Dienstag den 7.5.86 Meßwerte bekanntgegeben. Dabei scheint man sich im Nachhinein auf Aussagen von Dr. Porstendörfer, Leiter des Isotopenlabors, berufen zu wollen:

30.4.: ,,Nach Auskunft von Herrn Dr. Porstendörfer besteht kein Grund zur Besorgnis. Es handele sich um Strahlenwerte, die nicht gesundheitsschädlich seien."

4.5.: ,,Das Zivilschutzamt setzt sicht telefonisch mit dem Leiter des Isotopenlabors, Herrn Dr. Porstendörfer, in Verbindung und erhält von dort die Auskunft, ,dass im Hinblick auf die Regenfälle am Wochenende mit einem Auswaschen der Luft und einem Anstieg der Radioaktivität am Boden zu rechnen sei. Herr Dr. Porstendörfer schätzt die Lage auch nach der zu erwartenden Erhöhung der Bodenwerte als nicht bedrohlich ein und meint, dass die erhöhte Strahlung tolerierbar sei." (Dokumentation)
Anstatt die Meßwerte zu veröffentlichen, überläßt man die Bewertung der Meßdaten einer einzigen Person, hört sich dessen Meinung telefonisch an und entscheidet sich daraufhin, die Bevölkerung uninformiert zu lassen. Hat also Herr Porstendörfer darüber entschieden, welche Strahlenbelastung für die 130 000 Menschen in Göttingen tolerierbar ist ?

Auch in der Nacht von Sonntag auf Montag (4.5/5.5.) ging Regen nieder. Aus Kassel wurden Meßwerte von 6 500 Bq/l Regenwasser bekannt, das Institut für biophysikalische Chemie gab inoffizielle Hinweise auf ca. 10 000 bq/l Regenwasser für Göttingen bekannt. Aber auch am Montag wurden keinerlei konkreten Meßwerte von den Behörden bekanntgegeben. In einem Artikel des Göttinger Tageblattes wurde allgemein über Messungen des JHW berichtet und folgende Bewertung wiedergegeben:

,,Die Meßdaten, die das THW ermittelt hatte, lagen zwar gerinfügig über dem Durchschnitt, dennoch bestünde kein Grund zur erhöhten Besorgnis." (Göttinger Tageblatt 5.5.86)

Das THW Göttingen hatte mit seinem "ABC-Zug" am Sonntag Messungen im Landkreis durchgeführt und kritische Werte besonders im Ostteil des Landkreises festgestellt. Unter Auslassung der Meßdaten aus dem Ostteil wurden die Werte erst am 20.5.86 im GT veröffentlicht. Im Gegensatz zu den offiziellen Meldungen (3) war z.B. Oberkreisdirektor Engelhardt aufgrund der Messungen sehr beunruhigt, wie er auf einer Veranstaltung der SPD am 7.5. sagte - er habe ja selbst einen Säugling in der Familie. Nur warum hat Herr Engelhardt nicht eine sofortige Veröffentlichung der Meßwerte am Montag veranlaßt, nicht nur er hat einen Säugling in der Familie.

Am Montag den 5.5. führte das THW Messungen im gesamten Landkreis durch. Abends um 19.30 Uhr gab Wolfgang Send, Leiter des THWs folgende Meldung an die Lokalpresse:

,,Von gestern auf heute abend ist im Durchschnitt ein sehr leichter Anstieg der Belastung festzustellen. DIe Werte sind allerdings je nach gemessener Materie wie Wasser, Stein oder Gras unterschiedlich. An einigen Stellen sind die Werte auch zurückgegangen."(Göttinger Tageblatt 6.5.86)

Auch diesmal wurden nicht die dazugehörigen Meßwerte bekanntgegeben. Erst später wurde bekannt, dass die Verseuchung des Bodens im Landkreis Göttingen durchschnittlich 39 000 Bequerel pro Quadratmeter betragen hatte. ( nach Strahlenschutzverordnung dürfen verseuchte Gebiete oder Fläch~n mit mehr als 37000 bq/m nur mit besonderen Schutzmaßnahmen betreten werden)

Die Berufsfeuerwehr hatte eine Probe Regenwasser aus einer Pfütze entnommen und im Institut für physikalische Chemie untersuchen lassen. Die Messung ergab eine radioaktive Belastung von 5000 bq/l Auch dieser Meßwert wurde nicht veröffentlicht.

Erst am Dienstag den 6.5. wurde mit der Veröffentlichung vonMeßwerten begonnen, die über eine automatische Telefonansage abgerufen werden konnten. Seltsamerweise wurde am Dienstag abend 18.00 von dieser Ansage ein Meßwert von 200 bq/l Regenwasser genannt, wo doch einen Tag vorher 5000 bq/l gemessen worden waren und dieser Meßwert auch dem Zivilschutzamt bekannt gewesen sein müßte.

Allein die Technik der automatischen Telefonansage hatte für die Stadt den Vorteil, dass keine Nachfragen gestellt werden konnten, die Schallplatte bzw. das Tonband leierte den Text stur runter. Außerdem wurde jeder Anruf registriert, so dass man den Informationsbedarf der Bevölkerung quantifizieren konnte : Am 6.5. bis 12.00 Uhr wurden bereits 2386 Anrufe gezählt, bis 7.5. waren es dann 7859 Anrufe, bis zum 30.5. wurden insgesamt 14748 Anrufe gezählt. Auf die Dauer kann so auch festgestellt werden, wieweit die Bürger inzwischen wieder beruhigt sind und wie die einzelnen Verharmlosungsmaßnahmen wirken. (Die beiden ersten Zahlen nannte Stadtrat Winters auf der SPD-Veranstaltung am 7.5.86, die letzte Zahl wird in der Dokumentation der Stadt genannt)

Am Mittwoch den 7.5. wurde die Ansage folgendermaßen eingeleitet: "Guten Tag meine Damen und Herren ! Die Stadtverwaltung Göttingen teilt mit:Die Meßergebnisse des zentralen Isotopenlabors vom Mittwoch den 7. Mai  haben ergeben, dass die Radioaktivität in der Luft keine wesentlich erhöhten Werte gegenüber der normalerweise in der Natur vorhandenen gesamten Radioaktivität aufweist, die in der Luft bei 10 bis 20 Becquerel pro Kubikmeter liegt."

Hier handelt es sich wieder um eine Meisterleistung irreführender Formulierung. Man hat zwar erhöhte Meßwerte festgestellt, glaubt aber dies nicht offen sagen zu dürfen, ohne die Bevölkerung zu beunruhigen. Deshalb wählt man eine andere, verharmlosende Formulierung : ,,keine wesentlich erhöhten Werte". Erst ab dem 9.5.~als die Werte um ein vielfaches gefallen waren,hieß es dann:

,,keine erhöhten Werte". Vorher gab es offensichtlich erhöhte Werte, irreführend präsentiert als. ,,keine wesentlich erhöhten Werte".

Die Formulierung ,,keine erhöhten Werte" wurde vom 9.5. bis 20.5. verwendet, gleichzeitig hieß es aber in der Ansage täglich:"Die Meßergebnisse haben ergeben, dass die Radioaktivität in der Luft weiter abgenommen hat." Entweder es gibt keine erhöhten Werte oder es gibt erhöhte Werte, die täglich abnehmen aber eine Erhöhung, die nicht da ist kann auch nicht täglich abnehmen. Hauptsache es hört sich gut an, mag man da gedacht haben.

Auch der Vergleichswert von 10-20 bq/Kubikmeter Luft sollte verharmlosend in die Irre führen. Abgesehen davon, ob er überhaupt stimmt,wäre es wichtig gewesen, einen Vergleichswert für die gemessenen Isotope Jod 131 und Caesium 137 anzugeben. Hätte man z.B. die gemessenen Jod- und Caesiumwerte mit den gemessenen Durchschnittswerten des Jahres 1983 verglichen, hätte dies ja zu einer Beunruhigung der Bevölkerung führen können - da hat man eben einen Vergleichswert angegeben, der viel höher ist, das beruhigt.

  Durchschnittswert 1983 Meßwert am 5.5.86 angebl. Meßwert am 9.5.86 laut Telefon-Ansage
Jod 131 0,0037 2,0000 0,03
Caesium 137 0,0000043 0,8600 0,004

Der arglose Zuhörer der Ansage vergleicht dagegen die Angabe ,,10 bis 20 bq" mit den Meßwerten 0,03 und 0,004 und befindet, sie seien unerheblich. Bei den Meßwerten vom 5.5. oder gar vom 2.5. wären ihm allerdings dennoch Bedenken gekommen, aber diese Werte wurden ja gar nicht veröffentlicht.

Schädlichkeiten tolerierbar?

In der telefonischen Ansage wurde nach der Durchgabe der Meßergebnisse eine Bewertung vorgenommen, die sich auf Kinder bezog. Bei den allerersten Durchsagen am 6.5. um 11.00 Uhr und um 18.00 Uhr hieß es:

"Diese Werte lassen erkennen, dass die zusätzliche Strahlenbelastung von außen, auch für Kleinkinder, tolerierbar ist."

In der Zeit vom 7.5. bis 20.5. lautete die Formulierung:
"Diese Werte lassen erkennen, dass die zusätzliche Strahlenbelastung,auch für Kleinkinder, tolerierbar ist."

Am 21.5. hieß es: "Diese Werte lassen erkennen, dass die zusätzliche Strahlenbelastung, auch für Kleinkinder, unschädlich ist."

Ab dem 22.5. hieß es dann:
"Diese Werte lassen erkennen, dass die zusätzliche Strahlenbelastung, auch für Kleinkinder unbedenklich ist."
(Dokumentation, Textvorlagen der Telefondurchsage (gelbe Blätter))

Die anfangs verwendete Formulierung ,,von außen" wurde wahrscheinlich weggelassen, weil daraus geschlossen werden konnte, dass die Strahlung "von innen", also die mit der Nahrung etc. aufgenommene Strahlung ,,nicht tolerierbar" ist. Das Wort ,,tolerierbar" legte die Vermutung nahe, dass es soviel bedeutet wie unschädlich, ungefährlich. Allerdings war dieser Begriff erst für Meßwerte vorgesehen, die noch niedriger lagen; erst dann am 21.5. wurde die Strahlenbelastung als ,,unschädlich"' bezeichnet. Aber auch hier folgte bald eine Abänderung, denn wenn etwas durch das Absinken von Meßwerten ,,unschädlich" werden kann, dann könnte das ja heißen, dass es vorher "schädlich" gewesen ist, diese Schlußfolgerung wollte man verhindern, deshalb wurde dann der Begriff ,,unbedenklich" eingeführt und beibehalten. Vielleicht hat er den Herrschaften deshalb so gut gefallen, weil er die Aufforderung beinhaltet, nicht mehr darüber nachzudenken - Dieser sprachkritische Ausflug ist notwendig in einer Gesellschaft, die ein Lager für hochgiftigen, mörderischen Müll "Entsorgungspark" und todbringende Raketen (MX) , "peacemaker" nennt.

Am 7.5., an dem die Telefonansage mitteilte, die zusätzliche Strahlung sei auch für Kleinkinder tolerierbar, wurden vom THW (wie erst später bekannt wurde) der Spitzenwert von 0,225 Milliröntgen pro Stunde gemessen. Ein Wert, der dazu veranlassen sollte, die Kinder vorläufig im Haus zu lassen, wo die äußere Strahlenbelastung wegen der Entfernung zum Boden geringer ist.

Wie wenig die Verharmlosungspolitik auch Rücksicht auf Kleinkinder nahm zeigt ein Schreiben der Bezirksregierung Braunschweig vom selben Tag (7.5.) in dem es heißt:

"Für die Benutzung von Sandkästen, Spielplätzen o.a. werden auch weiterhin keine besonderen Verhaltensregelungen empfohlen. Dennoch sollte bei entsprechenden Anfragen sinngemäß folgende Aüskunft erteilt werden:
,WER GANZ VORSICHTIG SEIN WILL, DER BRAUCHT SEIN KIND NICHT GERADE IM SANDKASTEN SPIELEN ZU LASSEN.'(Fernschreiben Nr. l6BU)-l~92 0705 1223, in: Dokumentation , blaue Blätter)

"Maßnahmen zum Schutz der Kinder beunruhigen die Bevölkerung nur"

Von ähnlicher Qualität ist die Tatsache, dass die Kindergärten zwar nie eine offizielle Warnung vor Radioaktivität erhalten hatten, dass aber später ein Brief von Kellermann (Stadtverwaltung) zusammen mit einem Brief der Bezirksregierung Braunschweig eingetroffen sei, in dem die Aufforderung zur Aufhebung der getroffenen Vorsichtsmaßnahmen enthalten war. Von Stadtrat Winters war sogar offen die Sperrung der Spielplätze mit der Begründung abgelehnt worden, das würde Beunruhigung der Bevölkerung hervorrufen.(Bericht einer Kindergartenleiterin am 9.6.86, Hearing der Elterninitiative)

Herr Winters gehörte auch zu denjenigen, die der Bevölkerung durch ,,Tapferkeit vor der Radioaktivität" ein Beispiel an Unverzagtheit geben wollten:

,,In einigen Schulen Göttingens fiel die bewährte Milchspeisung aus -Gotthard Ritter, Leiter des Veterinäramtes, greift dagegen weiterhin unbesorgt zum weißen Trank. Kindergärten ließen die Jüngsten nicht ins Freie -Horst Renner, Leiter der Göttinger Berufsfeuerwehr schickt seine Sprößlinge nach wie vor zum Spielen in den Sandkasten. Mensagäste mußten auf frische Beilagen zum Fleisch verzichten, weil das Studentenwerk seit Montag keinerlei frischen Blattsalat mehr anbietet - Stadtrat Hans Winters (u.a. Feuerwehr/ Katastrophenschutz) beißt immer noch ins (gewaschene) knackige Grün."
(Zitat aus dem Anzeigenblatt ,,Blick" vom 7.5.86, Titelseite)

Bereits am 6.5. und dann auch am 7.5. hatte die telefonische Tschernobylauskunft der Stadt darauf hingewiesen, dass der "Verzehr von frischem Freilandgemüse" vermieden werden sollte. Außerdem nahm Herr Winters noch am selben Tag an einer Veranstaltung teil, auf der dringend vom Verzehr des "knackigen Grüns" abgeraten wurde - ohne dass Herr Winters widersprochen hätte. Man kann nur hoffen, dass niemand der \/erharmlosung auf den Leim gegangen ist. Zur Bewertung des Blick-Artikels ist vielleicht noch wichtig zu wissen, dass das Anzeigenblatt ,,Blick", das angeblich in 95000 er Auflage kostenlos verteilt wird, zum Göttinger Tageblatt gehört und dieses wiederum als Tochter des Madsackkonzern der Albrecht-Regierung verbunden ist, z.T. durch Projekte in den "Neuen Medien" wie Kabelfernsehen und Bildschirmtext.

Zurück zu Herrn Winters, da würde eigentlich die Forderung nach einem Rücktritt naheliegen. Allerdings gibt es Gerüchte, dass die FDP, der Winters angehört, selbst gerne Winters Posten vor der Kommunalwahl neu besetzen würde, denn Winters geht bald nach der Wahl in den Ruhestand und im Falle einer Mehrheit von SPD/Grünen hätte die FDP keinen Einfluß mehr auf die Neubesetzung der Stelle. Während eine Neubesetzung zum jetztigen Zeitpunkt nach der Wahl nicht mehr so einfach rückgängig gemacht werden könnte, weil dann Abfindungen o.a. zu zahlen wären. Also sollte man mit der Forderung nach Winters Rücktritt bis nach der Wahl warten.

3. Katastrophenpolitik der Landesregierung

Bei den Landkreisen und kreisfreien Städten handelt es sich um die unterste Stufe der strahlenschutzrechtlichen Instanzen. Zentrale Kompetenzen sind bei den Landesregierungen angesiedelt. Diese formale Zuständigkeit hat die Landesregierung Niedersachsen, insbesondere das zuständige Ministerium für Bundesangelegenheiten (Minister Hasselmann) dazu benutzt, auf noch unverschämtere Weise die Gefahren zu verschweigen und zu verharmlosen, schließlich bestand die Gefahr für die Landesregierung vor allem darin, dass eine Aufklärung über die Wahrheit ihre Chancen bei der anstehenden Landtagswahl geschmälert hätte. Das \/erhalten des Niedersächsischen Ministeriums für Bundesangelegenheiten wurde selbst von denjenigen kritisiert, die sich uns gegenüber ebenso schweigsam und abwieglerisch verhalten haben. Auf einer \/eranstaltung am 7.5.86 drückte Oberkreisdirektor Engelhardt sein Unverständnis darüber aus, dass die Landesregierung am Samstag den 3.5. noch von 'leichter Radioaktivität" gesprochen habe und selbst nach den Regenfällen noch gemeldet habe, es bestehe keine Gefahr für Kinder. Bereits am 5.5. war Engelhardts Mißmut auch im Göttinger Tageblatt registriert worden:

,,Als am Sonntagnachmittag ein seit Mittag angekündigtes Fernschreiben des Innenministeriums (Niedersachsen) mit Informationen zur Lage noch nicht beim Landkreis eingegangen war, wurde Oberkreisdirektor ALexander Engelhardt aktiv. Er beauftragte das Technische Hilfswerk (THW), Messungen in Stadt und Land vorzunehmen." (Göttinger Tageblatt vom Montag den 5.5.86)

Wie bereits dargelegt, hatte Herr Engelhardt es allerdings nicht für nötig befunden, die ermittelten Meßwerte sofort an die Öffentlichkeit weiterzugeben.

Auch Oberstadtdirektor \/ieten stellt in einem Schreiben an den FDP-Kreisverband und die CDU-Ratsfraktion am 12.5. fest:
,,...dass bis zum heutigen Jage die für diesen gesamten Komplex zuständige Niedersächsische Landesregierung keinen einzigen Meßwert für den südniedersächsischen Raum veröffentlicht bzw. uns unmittelbar zur \1erfügung gestellt hat. Die südlichsten Punkte an denen Messungen in Niedersachsen erfolgten, sind Braunschweig und Grohnde bei Hameln." (Diese Briefe sind abgedruckt in der Dokumentation der Stadt (graue Seiten))

Hätte \/ieten dafür gesorgt, dass die, der Stadtverwaltung bekannten Meßergebnisse in der Zeit vom 30.4 bis 5.5. veröffentlicht worden wären, dann wäre der protestierende Unterton der zitierten Bemerkung etwas glaubwürdiger.

Angesichts der Tatsache, dass von den Bundes- und Landesbehörden keine Unterstützung kam, konnte man nach dem 5.5. geradezu froh sein, dass wenigstens die Meßergebnisse des Jsotopenlabors ab dem 7.5. mit den richtigen Zahlenwerten angegeben wurden - auch wenn sie mit einer verharmlosenden Einleitung' und Bewertung verpackt durch die Telefonansage präsentiert wurden. dass dies zustande kam ist durchaus nicht selbstverständlich
Frage, was wäre passiert, wenn nicht der öffent;liche Druck von außen mit der Forderung nach \/eröffentlichung von Meßergebnisse"gekommen wäre. Dieser Druck war entstanden durch die Demonstrationen und Proteste vor dem Rathaus, aber auch dadurch, dass in Hörfunk, Fernsehen und Zeitungen Meldungen gebracht wurden, die die Bevölkerung beunruhigten und ein starkes Bedürfnis nach Informtionen über die konkrete Situation an ihrem Wohnort erzeugten. Danach waren die massenhaften Telefonanrufe ebenfalls ein wichtiges Moment des Druckes auf die Stadtverwaltung geworden. Dies sollte man in Erinnerung behalten, wenn Herr Vieten im Nachhinein die \/eröffentlichung der Meßergebnisse als seim fürsorgliches Verwaltungshandeln hinstellen möchte. Vieten läßt zB. ein Dankesschreiben des Stadtdirektors von Einbeck in der städtischen Dokumentation der Ereignisse abdrucken, in dem Stadtdirektor Lampe Herrn Vieten für die Meßergebnisse dankt.

Außerdem beklagt sich Lampe noch einmal deutlich über die Informationspolitik der Landesregierung, die die kleinen Städte völlig hängengelassen habe: also Stadtdirektor Lampe (Einbeck) an Oberstadtdirektor Vieten:
"Ich kann mir vorstellen, dass Sie die spärlichen und nichtssagenden Informationen, die Ihnen von den Bundes- und Landesbehörden zugegangen sind, veranlaßt haben, das Isotopenlabor der Universität Göttingen einzuschalten. Sie sollen aber auch wissen, dass es in unseren kleineren Städten mit Informationen noch trostloser bestellt war, zumal wir keine "Katastrophenschutzbehörden" sind und deshalb darauf warten müssen, was von den Landkreisen an uns weitergegeben wird. dass das nicht allzuviel war, hat wohl Herr Oberkreisdirektor Dr. Engelhardt sehr deutlich gemacht. Ich habe den Eindruck, dass die Oberbehörden von uns Kleinen überhaupt keine eigene Initiativen erwarten, obwohl gerade bei uns die Bürger vor der Tür stehen und zumindest Auskunft darüber haben wollen, was die Behörden zu tun gedenken oder was wir ihnen raten können." (Brief vom 12.5., in: Dokumentation (herausgegeben von \/ieten!))
Am Donnerstag den 15.5.86 wurde dann vom Niedersächsischen Ministerium für Bundesangelegenheiten ein sogenanntes ,,Bürgertelefon" eingerichtet, dessen Ansagetext die verharmlosende Verpackung des Göttinger Telefondienstes noch übertraf und darüberhinaus auch noch völlig nichtasagende Darstellungen der Meßergebnisse wählte. Der einleitende Ansagetext lautete:
,,Guten Tag meine Damen und Herren ! Hier ist das Bürgertelefon des Nieder-sächsischen Ministeriums für Bundesangelegenheiten. Die Radioaktivität nach dem Reaktorunglück in der UdSSR nimmt in Niedersachsen weiter ab, eine gesundheitliche Beeinträchtigung ist auszuschließen."( Bürgertelefonansagetext vom 15.5.)

Und danach kommen so nichtssagende Darstellungen der Meßergenisse wie z.B.: "Proben vom 1.5. bis 10.5.: Kopfsalat 4 bis 1000 Becquerei Jod 131." Da wußte man nun einen Höchstwert und einen Tiefstwert für einen Zeitraum von 10 Tagen, d.h. man wußte eigentlich gar nichts außer dass man am besten keinen Salat essen sollte, weil man andererseits Gefahr lief, einen mit 1000 bq zu erwiscben. Aber dieser Ansagetext wurde auch erst am 15.5. im Telefon wiedergegeben, also konnten die klerte inzwischen noch höher oder noch niedriger sein. Der einleitende Text sprach davon, dass eine gesundheitliche Beeinträchauszuschließen sei und legte damit eine ganz bestimmte verharmlosende Interpretation der völlig ungenauen Information über Meßergebnisse nahe.

Bei der Bekanntgabe konkreterMeßergebnisse für die radioaktive Belastung von Gras gab es unter Hinweis auf Daten der Physikalisch Technischen Bundesanstalt Braunschweig (PTB) dezente Kritik im ßöttinger Tageblatt:

,,Die Werte der PTB liegen beim Gras deutlich höher als die, die das Minis -tenum für Bundesangelegenheitenals Landesdurchschnitt angegeben hat." (Göttinger Tageblatt von Pfingsten 1986) Dabei muß man wissen, dass die PTB gewiß keine Anstalt ist, die gegenüber der Kernenergie kritisch eingestellt ist, vielmehr tendiert sie selbst dazu, zu niedrige Meßwerte anzugeben. vergleicht man z.B. die Messungen der Beta-Strahlung pro Quadratmeter, dann unterscheiden sich die Meßergebnisse der PTB ganz erheblich von denen des THW in Göttingen. Dabei sind die Abweichungen so groß, dass nur schwerlich regionale Unterschiede dafür verantwortlich sein können. Diese Vermutung wurde auch durch Verg1eichsmessungen in Braunschweig selbst bestätigt. Das Institut für Nuklear-Meßtechnik und Dosimetrie Norddeutschland, vertreten durch den Physiker Dieter Knoll, hat am 11.5. in Braunschweig 20 000 bis 70 000 Becquerel/Quadratmeter festgestellt , (In: STERN Nr.22, 22.5.86 , 5.31) das PTB hingegen hat für diesen Tag lediglich 5 900 Becquerel bekanntgegeben.

VERGLEICH DER MESSERGEBNISSE VOM 11.5.86

PTB Institut für Nuklear-Meßtechnik, THW
bq/m2, Jod 131 im Raum Braunschweig bq/m2 in Braunschweig Betastrahlung bq/m2 Landkreis Göttingen
5900 20.000-70.000 10.000-33.000

Umso bedenklicher stimmt es einen, wenn das Niedersächsische Ministerium für Bundesangelegenheiten zu noch niedrigeren Meßwert-Angaben tendiert als die PTB.

Insgesamt verfolgte das Ministerium die Strategie, das Problem auf eine Angelegenheit des radioaktiven Jod 131 zu reduzieren, da man hier aufgrund dessen Halbwertszeit von 30 Tagen den Bürgern eine dauernde Abnahme der Radioaktivität vorgaukeln konnte. Je mehr die Werte für Jod 131 sanken, umso stärker wurde der Eindruck zu erwecken versucht, dass damit auch das gesamte Problem Radioaktivität abnehme. Auf Meßwerteangaben für Caesium verzichtete man weitgehend. Z.B. fehlten Angaben über die Caesiumverseuchung von Rindfleisch. Die langfristigen Gefahren für die Nahrungsmittel wurden, wie von allen anderen Behörden auch, völlig verschwiegen. Da die Radioaktivität von Jod 131 dauernd abnahm, wurde dann am Samstag den 24.5.86 im 'Bürgertelefon' des Ministeriums folgendes mitgeteilt:

,,Aufgrund der entspannten radiologischen Situation wird die Berichterstattung unter dieser Nummer ab Montag den 26.Mai eingestellt. Kurzinformationen können Sie dann unter der Rufnummer 0511/800256 erhalten. Darüberhinaus werden über die Presse weiter Informationen gegeben. Auf Wiederhören.'

Wer am Dienstag den 27.Mai die ,,Bürgertelefon"-Nummer wählte, dem wurden dann Nachrichten über die Fußballweltmeisterschaft verlesen. Die ganze \/eranstaltung des ,,Bürgertelefons" hatte offensichtlich dazu gedient, entlang der Jod 131-Belastung eine ständige Abnahme der Radioaktivität ,"nachzuweisen" um möglichst noch vor der Landtagswahl das Problem als überwunden darstellen zu können. Am 19.6. teilt die städtische Telefonansage mit, das \1eterinäramt Hannover habe für Cäsium 137 und Cäsium 134 jeweils 50 bq/l Milch gemessen.

4 .Messungen im Rahmen der Katastrophenpolitik

So sehr die Katastrophenpolitiker die Bekanntgabe konkreter Meßwerte gescheut haben als es darum ging, die Bevölkerung frühzeitig zu informieren, sie selbst sind doch daran interessiert in Zukunft genaue Meßdaten über die langfristige Verseuchung zu erhalten. So wurde bereits mehrfach auf Bundesebene die Installation eines flächendeckenden Meßnetzes ins Gespräch gebracht. In welche Richtung dabei die Informationen fließen werden zeigt die Handhabung von 25 ,,Warnmeßdienststellen" des Bundesamtes für Zivilschutz, die in Südbayern installiert sind

,,..die nach dem Reaktorunglück in der UdSSR die erhöhte radinaktive Strahlung in der Luft mehrmals am Tag registrierten. Die Meßergebnisse landeten beim Bundesinnenministerium in Bonn, nicht jedoch beim Umweltministerium in München. Pressesprecher Gass: ,Ich hab so ein Ergebnis nie gesehen.' "( Klaus Ott, Messungen am Umweltministenum vorbei -Daten des Bundesamtes für Zivilschutz zur Radioaktivität standen den landesbehörden nicht zur Verfügung, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.5.86)

"Bis Mitte letzter Woche, zehn Jage nach dem Aufziehen der radioaktiven Wolke, gab es keine offiziellen Merkblätter für die Bevölkerung - in einem Land in dem zu normalen Zeiten die Ministerien Berge von Papier produzieren. Anfangs wurde sogar versucht, Meßwerte geheimzuhalten. Immer deutlicher wiurde Ende letzter Woche, dass die bayrischen Behörden schon frühzeitig über die Lefahr der Atomwolke informiert waren, diese Information aber zurückhielten, die Werte herunterspielten und eine rechtzeitige Warnung der Bevölkerung unterließen. Bereits am Mittwoch vorletzter Woche hatte das Wetteramt in München einen Wert von 2700 Picocurie gemessen (am Vorabend um 20 Uhr waren es noch 55 gewesen) gleichfalls am Mittwoch setzte in München hochgradig verseuchter Regen ein, eine Warnung unterblieb, obwohl die Lefahr längst intern vermeldet worden Dafür ging dem Wetteramt in München am selben Tag ein Fernschreiben der Zentrale in Offenbach zu:

,Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass den Wetterämtern übermittelte Werte der gemessenen Radioaktivitäten den Leheimhaltungsgrad VS/NFD haben und ausschließlich als Unterlagen für die von den jeweiligen Landesregierungen zu gebenden Beratungen dienen. Eine Weitergabe an die Öffentlichkeit ist untersagt."

Eine Ausiweitung des Meßnetzes nützt die Bevölkerung solange nichts, wie nicht die Weitergabe der Meßergebnisse an die Öffentlichkeit sichergestellt (Spiegel, Nr. 20, 1986, 5.21) ist. Wenn von Behördenseite nun eine Ausweitung der Meßeinrichtungen betrieben wierden sollte, dann wird dies wahrscheinlich unter die zentrale Zuständigkeit des neu eingerichteten Bundesministeriums für Umweltschutz und Reaktorsicherheit (Wallmann) gestellt IMerden.
Es durfte einige Probleme bereiten, einerseits umfangreiche Untersuchungen und Messungen flachendeckend durchzufuhren, andererseits aber die Meßergebnisse standig geheim zu halten. Konkret hat sich dieser Widerspruch bereits in einem Fernschreiben der Bezirksregierung Braunschweig vom 27.5.86 ausgedruckt.

,,Nach dem Kernkraftwerksunfall in Ischernobyl werden in einigen Landkreisen und Lemeinden Überlegunqen angestellt, eigene Meßdienste zur Überiwachung der Radioaktivität in Luft, Boden, Wasser, Bewuchs und tierischen sowie pfanzlichen Nahrungsmitteln einzurichten. (....) Aufgrund vorstehender Überlegungen kann ein dezentralisiertes Meßnetz (...) nicht empfohlen werden."
Am selben lag kommt nochmals ein Fernschreiben in dem steht als Nachtrag: ,,Mit diesen Ausfuhrungen wird nach meinem Dafürhalten ein langfristiges Konzept ortsnaher Daten nicht in Frage gestellt.

Diese Überlegungen sind insofern für Göttingen von Bedeutung, als es hier eine Reihe von wissenschaftlichen Einrichtungen gibt, die bei der Durchfuhrung eines breit angelegten Untersuchungsprogrammes herangezogen wurden und Professor Dietrich Harder, der als Mitglied der Bonner StrahlenschutzKommission uber die zukunftigen Plane bestens informiert sein durfte bereits bei der Stadtverwaltung Göttingen vorstellig wurde mit dem Vorschlag eine kommunale Stelle für Messungen einzurichten. Da der Charakter der Bonner Strahlenschutzkommission bekannt ist und auch Prof. Dietrich Harder bereits als Unterzeichner eines Pro-Atomkraftwerke-Aufrufes an die Bundestagsabgeordneten bekannt ist, fragt man sich, warum Prof. Harder eine solche Forderung an die Stadt Lättingen heranträgt. Möchte er vielleicht eine mit kommunalen Leldern finanzierte Einrichtung haben, die als Meßdatenzuträger für zentrale Auswertungen dient ?

Nun sollte man niemandem die Fähigkeit zu Lernprozessen absprechen, es ist jedoch recht unwahrscheinlich, dass Prof. Harder die Forderung nach einer UNABHÄNGIGEN Einrichtung unterstutzt. Wahrscheinlich versucht man sich auf die Einrichtung einer zusätzlichen Meßkapazität im Isotopenlabor zu einigen, da die dort bereits vorhandene Infrastruktur uberflussige Kosten vermeiden würde. Ob aber unter der Leitung von Porstendörfer ein unabhängiges Meßprogramm und eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit gewährleistet wäre darf bezweifelt werden

\/on seiten des Gesundheitsministeriums läuft ein Versuch, die langfristigen Folgen der radioaktiven Verseuchung nach Ischernobyl zu untersuchen. Ziel des Programmes ist nicht die Messung von Lebensmitteln und die Warnung der Bevölkerung sondern Ziel ist die Ausbreitung der Verseuchung von Menschen festzustellen, also ärztliche Untersuchungsprogramme uber Zunahme an bestimmten Krankheiten infolge Radioaktivität o.a. Von der Aufforderung zur Mitarbeit an diesem Programm wird die Göttinger Uni nicht ausgespart bleiben.
1) Fernschreiben vom 27.5.86, in Dokumentation der Stadt Göttingen

Wir brauchen ein unabhängiges Labor für Radioaktivitätsmessungen

1. In einer Zeit der Ungewissheit haben uns die Politiker und Behörden total im Stich gelassen. Sie haben versucht,uns die Gefährdung durch Radioaktivitat in der Luft zu verschweigen, sie haben die Meßergebnisse nicht veröffentlicht, sie haben es versäumt, Warnungen auszusprechen und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Erst als die äußere Strahlenbelastung des Jod 131 zurückging haben sie mit der Veröffentlichung von Meßiiuerten begonnen. In ihren öffentlichen Stellungnahmen haben sie uns durch Verharmlosungen versucht irrezuführen und zu beruhigen, bis heute verschweigen sie die Gefährdung durch langfristige radioaktive Verseuchung unserer Nahrungsmittel. Deshalb ist ein Bedürfnis nach einer Einrichtung entstanden, die von Stadtverwaltung, Landkreis, Bezirks- und Landesregierung unabhängige Radioaktivitätsmessungen durch-führen und die Bevölkerung darüber informieren kann.

2. Die radioaktive Gefährdung bestand anfangs in der äußeren Strahlung, die von radioaktiven Teilchen in der Luft und am Boden ausging. Gleichzeitig bestand eine Gefährdung durch das Einatmen radioaktiver Teilchen mit der Luft. Während die Verseuchung von Oberflächen mit mobilen Handmeßgeräten annäherungsweise festgestellt werden kann, ist die Feststellung der verschiedenen strahlenden Stoffe in den Nahrungsmitteln nur mihilfe von Laboreinrichtungen möglich. Ebenso erfordert die Bestimmung der jeweils strahlenden Substanz solche Laboreinrichtungen. Ein mobiles Handmeßgerät kann also z.B. die Radioaktivität auf der Oberfläche von Gemüse feststellen, ist aber völlig ungeeignet festzustellen, wieviel Caesium, Strontium oder gar Plutonium z.B. im Gras, in der Milch, im Fleisch, im Getreide enthalten ist, denn die (Beta-)Strahlung der langlebigen radioaktiven Stoffe reicht nicht sehr weit, so dass sie nicht bis an die äußere Oberfläche eines Nahrungsmittels reichen. Werden diese radioaktiven Substanzen aber im menschlichen Körper angereichert, schädigen sie die Zellen in unmittelbarer Umgebung, töten sie ab oder lösen Wucherungen - Krebs -aus.

3. Die radioaktiven Substanzen verteilen sich nicht gleichmäßig in unserem Ökosystem, sondern es ergeben sich unterschiedliche Konzentrationen wenn sie über Jahre hinweg unsere Nahrungsketten durchlaufen. So wird z.B. erst im Herbst wieder die Milch stärker verseucht sein, wenn das radioaktive Heu vom Frühjahr 1986 im Stall verfüttert wird, oder das Getreide wird erst nach vielen Monaten einen Schub in der radioaktiven Verseuchung erfahren, wenn Caesium und Stron tium in den Wurzelbereich der Pflanzen vorgedrungen sind. Ein anderes Beispiel sind die verschiedenen Milch-Folgeprodukte Joghurt, Käse, Quark, Schokolade usw., die aufgrund ihrer Zusammensetzung unterschiedliche radioaktive Konzentrationen aufweisen. Die genaue Bestimmung, zu welchem Zeitpunkt, welches Nahrungsmittel besonders hohe Konzentrationen aufweisen wird, erfordert eine genaue Analyse der Nahrungsketten und ein daraus abgeleitetes Meßprogramm, das nur mit entsprechender Laboreinrichtung und qualifiziertem Personal durchzuführen ist.

4. Eine solche Einrichtung kostet von der apparativen Ausstattung her ca. 600000 DM als einmalige Investition. Däzu kommen jährliche Kosten durch Wartung, Reparatur, Abschreibungen und Personalkosten. Zur Finanzierung einer solchen Einrichtung sollten die Stadt und der Landkreis Göttingen (evtl auch LK Northeim und LK Osterode) gemeinsam beitragen, denn diese Einrichtung LMürde sinnvollerweise auch für die gesamte Region tätig werden.

5. Die Unabhängigkeit der Einrichtung von Stadtverwaltung, Landkreis(en), Landes-oder Bundesregierung muß durch eine entsprechende Rechtsform sichergestellt werden, die eine Verhinderung der Veröffentlichung von Meßergebnissen unmöglich macht. Deshalb ist es wichtig, dass ein Kontrollorgan zwischen Behörden und Labor eingeschoben wird, das die Verfolgung der genannten Ziele garantiert. Zu diesem Zweck sind Personen in dieses Kontrollorgan zu entsenden, die eine kritische Haltung gegenüber der Atomenergie haben. Ebenso müssen die im Labor tätigen Wissenschaftler/innen durch ihre Persönlichkeit eine rückhaltlose Information und Aufklärung der Bevölkerung - auch gegen massive \/ersuche der Einflußnahme von Behörden - gewährleisten. Eine Besetzung der Stellen mit Befürwortern von Atomkraftwerken scheidet deshalb von vorneherein aus. Noch vor der Kommunalwahl 1986 soll ein vorbereitender Ausschuß mit stimmberechtigten Mitgliedern aus Bürgerinitiativen erste Beschlußvorlagen erarbeiten.

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