Bürgerhaushalt
für Göttingen! Porto Alegre als Modell? (2003 ?)
Stell Dir vor, wir entscheiden über den städtischen Haushalt!
2003 , Martin Braun
/ "Der
partizipative Bürgerhaushalt von Porto Alegre", so hieß eine Podiumsveranstaltung
die vor ca. zwei Monaten im ZHG der Universität Göttingen stattfand.
Podiumsgäste waren: Davi Luiz Schmidt, Provinzregierung Porto Alegre (Ex-Vize-Bürgermeister
für Bildung und Erziehung), Porto Alegre, Miguel Rangel, Stadtrat im Rat
des Bürgerhaushaltes, Porto Alegre Stefan Wenzel, haushaltspolitischer
Sprecher Bündnis 90/Die Grünen, MdL Hans-Peter Suermann, Erster Stadtrat
und Kämmerer, Stadt Göttingen Dr. Wolfgang Schrödter, Hauptgeschäftsführer
Nieders. Städtetag, Hannover. Moderation: Silke Inselmann, Stiftung
Leben + Umwelt, Hannover
Veranstalter: Stiftung Leben und Umwelt, Heinrich Böll Stiftung
Niedersachsen in Kooperation mit KATE, Kontaktstelle für Umwelt &
Entwicklung, Stuttgart im Rahmen eines länderübergreifenden Projektes
der Heinrich Böll Stiftung
Ein Teil der Podiumsteilnehmer
Bürgerbeteiligung
in Porto Alegre
Zur Einführung in die Thematik referierte der Politologe, Dietmar
Böhm von der Fachschule für Sozialpolitik über den Bürgerhaushalt
Porto Alegres: Seit mehr als 10 Jahren stellt die brasilianische Millionenstadt
Porto Alegre den kommunalen Haushalt mit wachsender Beteiligung gemeinsam
mit Bürgerinnen und Bürgern auf. Mit großem Erfolg: Die Korruption
wurde massiv eingedämmt, die Infrastruktur hat sich erheblich verbessert
und die Identifikation mit der Stadt hat sich bei allen Beteiligten
erhöht. Porto Alegre, ausgezeichnet von der UNO für "good governance",
macht Schule - nicht nur in Brasilien, auch in Deutschland. |
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Erreicht wurden diese
guten Ergebnisse mit der konsequenten Beteiligung der Bürger Porto Alegres
an den Jahres-Haushaltsentscheidungen Ihrer Stadt. Die Frage, was mit
den frei verfügbaren Mitteln (ca. 20 % des Gesamthaushalts) getan werden
soll, wird in einem 11-monatigen Prozeß diskutiert. Vor allem die Bürger
der Stadt, die kein Wählermandat besitzen und nicht Mitarbeiter der Stadtverwaltung
sind, bestimmen in einem festgelegten Verfahren, wofür die Gelder in welcher
Höhe und Reihenfolge für welche Projekte eingesetzt werden. Sie erstellen
dafür Ihre Prioritätenlisten in aufgabenspezifischen Arbeitsgruppen und
auf Stadtteil-Versammlungen. Die Beteiligung ist sehr hoch. Miguel Rangel
berichtete, dass gegenwärtig in seinem Stadtteil mit 120.000 Einwohnern
ca. 2.000 Bürger zur Versammlung kommen. Am Ende des jährlichen Prozesses
resultiert aus all dem ein partizipativer Haushalt, dessen Daten in einer
für die meisten Bürger verständlichen Fassung veröffentlicht und an jeden
Haushalt verteilt werden.
Ähnlich wie in Deutschland ist die Verwaltung der Stadt nicht verpflichtet,
die Beschlüsse der Bürger auszuführen. Sie befolgt sie freiwillig seit
1989. Wie die beiden Referenten aus Porto Alegre erläuterten, hatte das
natürlich gravierende Auswirkungen:
1. Korruption ist bei solchen Verfahren kaum möglich, sie ist definitiv
beendet.
2. Es wird eine weitgehende Interessenbalance für alle Bürgerschichten
erreicht.
3. Politiker müssen Ihre Arbeit nicht so stark nach dem Gesichtspunkt,
welche Politik, welche "Show", welche Versprechungen sich am
besten im Wahlvolk verkaufen lassen lassen, ausrichten. Sie werden eher
daran gemessen, was sie tatsächlich tun.
Bürgerbeteiligung
in Deutschland
Ist all dies nun ein Modell für direkte Demokratie und Beteiligung von
Bürgerinnen und Bürgern auch bei uns? Die Frage stellt sich nicht
nur in Göttingen. In vielen Städten Deutschlands wird mit Bürgerbeteilungs-Modellen
experimentiert. In Nordrhein-Westfalen wurde dafür ein Projekt von Landesregierung,
Bertelsmann-Stiftung und der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung
(KGSt) initiiert. Die Stadt Hamm ist eine der Modellkommunen und aufgrund
ihrer Einwohnerzahl von 180.000 Bürgern vielleicht am ehesten dafür geeignet,
dass ihre Erfahrungen und Vorgehensweise für Göttingen geprüft und ggf.
genutzt wird.
Erste Versuche
für Bürgerbeteiligung in Göttingen
Die Stadtverwaltungen Göttingen ist erste Schritte gegangen, um mit Bürgerbeteiligung
zu experimentieren.
Im Wettbewerb "Zukunftsfähige Kommune 2001/2002", welcher in
Anlehnung an die Agenda 21 ausgeschrieben wurde, erreichte Göttingen immerhin
eine Bronze-Prämierung. Über die Qualität der Konsultationsprozesse steht
in der Agenda 21: "Mit Interessensvertretern, Bürgerinnen und Bürgern
wird ein Einvernehmen über die drängenden sozialen, ökologischen und ökonomischen
Probleme erzielt." Frau Friedrich-Braun, Ansprechpartnerin für die
Agenda 21 in der Verwaltung der Stadt Göttingen, erwähnte als Beispiel
die derzeitige Diskussion der Südumgehung auf Bürgerversammlungen und
über die Internetpräsenz der Stadt Göttingen.
Als zweites verwies sie darauf, dass Bürger in Entscheidungen einbezogen
würden, welche Steine für den Bau von einigen Wegen und Straßen verwendet
werden sollen.
Sie wies auch auf den Koordinierungskreis Agenda 21 hin. Er trifft sich
unregelmässig das nächste Mal im Herbst. In diesem Koordinierungskreis
werden Themen wie Umwelt, Frauen, Gesundheit und Entwicklungspolitik diskutiert.
Dieser Kreis habe sich aus Vertretern verschiedener Interessengruppen
gebildet, sei aber offen für neue Mitglieder. Man werde ggf. weitere Interessenten
zu den nächsten Treffen einladen.
Was ist Bürgerbeteiligung?
Aus dem Berichteten von Porto Alegre und Göttingen wird deutlich, dass
die Vertreter dieser Kommunen ein unterschiedliches Verständnis von dem,
was Bürgerbeteiligung sein könnte, besitzen. Im folgenden der Versuch
einer eigenen Definition:
1. Bürgerbeteiligung ist immer darauf ausgerichtet, einen Interessenausgleich
zwischen allen Bürgern einer Gemeinschaft (in unserem Fall der Kommune)
sicherzustellen.
2. Das bedeutet, dass nicht nur die Verwaltung, die Politiker und die
Interessenverbände an Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Vielmehr
müssen die Vertreter dieser Gruppen ein fundamentales Interesse daran
entwickeln, dass auch die Wünsche, derjenigen einbezogen werden, die keine
(gute) Lobby besitzen und politischen und anderen Randgruppen zugehören.
Es sind vornehmlich die Wenig-Besitzenden, die Resignierten, die Arbeitslosen,
die Kranken, die wenig Gebildeten und oft die Kinder in unserer Gesellschaft,
deren Interessen zu wenig berücksichtigt werden.
3. Alle Beteiligten müssen ein beständiges Interesse besitzen, die bisher
"Wortlosen" zu aktivieren, deren Interessen wahrzunehmen und
in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
4. Von allen Beteiligten wird erwartet, dass sie andere Meinungen respektieren
und bei ihren Entscheidungen berücksichtigen.
5. Von allen Beteiligten wird erwartet, dass sie sich sachkundig machen,
bevor sie Entscheidungen treffen. Fehlt Wissen und Sachkundigkeit dann
müssen alle relevanten Informationen zur Verfügung gestellt werden.
Erfahrungen mit
Bürgerbeteiligungen
Die Erfahrungen in Porto Alegre zeigen, dass sicherlich ein besonderer
Aufwand für Bürgerbeteiligung betrieben werden muss, aber der gewünschte
Effekt wird erreicht. Monitär ausgedrückt: Die Kosten sind wesentlich
geringer als der erzielte Gewinn. Auch die Bürgerkommunen aus Nordrhein-Westfalen
berichten durchgängig von positiven Erfahrungen.
Bürgerbeiligung
in Göttingen ist notwendig
Neben dem Koordinierungskreis Agenda 21 gibt es in Göttingen noch eine
weitere Gruppe, die Bürgerbeteiligung auf Ihre Fahnen geschrieben hat.
Es handelt sich um den "Arbeitskreis Bürgerbeteiligung". Das
nächste Treffen dieser Gruppe findet am 4. Sept im Fernsehraum der Galerie
APEX um 19.30 Uhr statt. Auf der Internetpräsenz von attac, www.attac.de/goettingen,
sollen die Termine und Arbeitsinhalte dieser Gruppe künftig veröffentlicht
werden.
Es scheint nicht nur wünschenswert sondern dringend notwendig zu sein,
dass Bürger den Haushalt der Stadt Göttingen beraten. Die Arbeitsergebnisse
der Verwaltung und des Rates der Stadt deuten auf eine geballte Unfähigkeit,
die Bürgerinteressen wahrzunehmen. Das muß nicht (allein) an persönlichem
Versagen liegen, vielleicht sind es vor allem die Entscheidungsstrukturen,
die weise Entschlüsse verhindern. So kann z.B. die Presseerklärung der
Verwaltung vom 18. Juli diesen Jahres als Hilferuf verstanden werden:
"Nur unter Zurückstellung größter Bedenken hat die Bezirksregierung
Braunschweig den Haushalt 2003 der Stadt Göttingen genehmigt. ... Einen
Haushalt 2004 ohne weitere Reduzierung der freiwilligen Ausgabenansätze
... werde man nicht akzeptieren... . ... Um ... Verbesserungen zu erreichen,
bedürfe es eines Haushaltskonsolidierungskonzeptes, das umfassend fortgeschrieben
und konsequent zur Ausgabeneinsparung in allen kommunalen Aufgabenbereichen
umgesetzt werden müsse. Die Fortsetzung der begonnenen Konsolidierungsmaßnahmen
unter Nutzung sämtlicher Einnahmequellen fordert die Bezirksregierung
mit einem ausdrücklichen Hinweis auf Kooperationspotentiale mit dem Landkreis
ein. ... Auch die Veräußerung städtischen Vermögens mache nur Sinn, wenn
der strukturelle Haushaltsausgleich oberste Priorität besitze. Andernfalls
würden nur kurzfristige Entlastungen erreicht. ... Der Etat 2003 weist
im Verwaltungshaushalt bei Einnahmen von 297,4 Mio. Euro und Ausgaben
von 463,8 Mio. Euro einen Sollfehlbedarf (inkl. des Fehlbetrags 2002)
von rund 166 Mio. Euro aus. ..."
PDS
(2003) bringt das Thema in Rat und Kreistag
29.7.03 / goest /
Ein Antrag in Richtung "Partizipativer Haushalt" wurde am 02.07.
von Patrick Humke in den Kreistag eingebracht. Dort wird er im zuständigen
Ausschuss behandelt werden. Am 4.7. hat die PDS-Fraktion den Antrag in
den Stadtrat eingebracht. Dort ist er ebenfalls in den dort zuständigen
Ausschuss überwiesen worden.
Die B'90/Grüne finden die Idee eigentlich
gut, haben aber gegen den Antrag polemisiert. Er sei "dämlich formuliert",
etc. Im Stadtrat haben die Grünen am 4.7. einen Antrag eingebracht für
die Teile der Bevölkerung, die nicht durch Ortsräte vertreten werden (=
etwa 60 % der GöttingerInnen) sollen Orts- bzw. Bezirksräte eingeführt
werden. Die PDS unterstützt diesen Antrag, da er ein Schritt in die Richtung
auf mehr Partizipation ist.
Im Juni gab es an der Uni eine Podiumsdiskussion mit Leuten aus Porto
Alegre. Es handelte sich um eine Rundreise, die von der Bertelsmannstiftung,
der H.-Böll-Stiftung und anderen organisiert wurde. Vor Ort kam noch die
"ifak" hinzu. Die SPD unterstützt den PDS-Antrag zumindest vorläufig.
Mal sehen, was passieren wird. Die CDU lehnt so etwas strikt ab. In Verkennung
der Tatsache, dass andernorts die CDU solche Anträge sehr wohl aktiv unterstützt
hat.
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