Göttinger
Autor*nnen
Regine
Wagenknecht
Lesung
- Ein Treffen in Venedig (April 2011)
Lesung Rosa
Luxemburg / "Eure Ordnung ist auf Sand gebaut" (März
/2011)
G.
Schäfer / Buchbesprechung
"Ein Treffen
in Venedig" - Novelle
von Regine Wagenknecht
Kritisch-politische
Stadtführung durch Venedig, Vergangenheitserinnerung und Kritik am Fortdauern
von beschönigender Nazideologie, Erschrecken über Goethezitate, die
Unfähigkeit zu trauern und die Aufklärung einer Familiengeschichte.
Im Folgenden kurz die
Rahmenhandlung: Einer Frau wird per Brief überraschend offenbart,
wer ihr wirklicher leiblicher Vater ist. Sie hatte deshalb vorher auch
nie erfahren, warum ihre Mutter sich von ihm getrennt hatte. Nach ersten
brieflichen Kontakten mit dem Vater trifft sie ihn auf dessen ausdrücklichen
Wunsch in Venedig. Der Vater hat ihr aufklärende Worte zur Familiengeschichte
versprochen. Während des Venedigaufenthaltes zögert der Vater
diese Aufklärungen jedoch immer wieder hinaus. Stattdessen macht
er unter Zuhilfenahme von Goethezitaten verklausulierte Andeutungen. Soweit
ein kurzer Abriß der Rahmenhandlung, ohne die Auflösung am
Ende des Buches zu verraten.
Die Handlung in Venedig spielen
zu lassen, lag nahe, weil Regine Wagenknecht die Stadt offensichtlich
wie ihre Westentasche kennt. Aus diesem Grunde enthält das Buch auch
viele genaue Ortsbeschreibungen. Es könnte hilfreich sein, während
der Lektüre einen Stadtplan neben das Buch zu legen. Wer sich in
Venedig auskennt, wird die kleinen Gassen, Kanäle, die Plätze
und Gebäude vor Augen haben. Wer sich weniger oder gar nicht dort
auskennt, kann aus den Beschreibungen immerhin einige gute Tipps für
eine eventuell spätere Reise dorthin notieren.
Der Ort wird bei aller Begeisterung für die Schönheit der Stadt
aber nicht zum Anlass für romantisch-verklärende Beschreibungen,
sondern die aktuellen politischen Probleme Venedigs sind in den Beschreibungen
so gegenwärtig wie die Bewunderung für die Stadt. In der Vorbemerkung
des Buches heisst es "Personen und Handlungen sind frei erfunden, Historische
Angaben und alle sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten im
Herbst 2006 entsprechen der Realität." Zu diesen Realitäten
Venedigs gehört um nur ein Beispiel zu nennen, der Hinweis auf die
Kritik am Projekt MoSe dem modulo sperimentale elettromeccanico - dem
Bau von Schleusentoren, die die Lagune vom Meer abschotten sollen, was
mit gigantischen Baumaßnahmen die gesamte Ökologie der Lagune
zum Kippen bringen könnte.
Venedig ist nicht nur jene
Traumstadt, die so schön ist, dass der eigene Körper beim
Aufenthalt in dieser Stadt irgendwann nur noch zum Träger des Auges
wird. (So formulierte sinngemäß Brotzky über Venedig)
. Sowohl ihre teilweise unschöne Gegenwart wie auch die unschöne
Vergangenheit finden Eingang in die Geschichte. In Venedig hat es unter
der deutschen Besatzung durch die Nazis Deportationen von Juden gegeben.
Dies war zunächst der ganz und gar unromantische Anlass für
die Berührung der Autorin mit Venedig. Die Naziverbrechen, die Geschichte
ihrer Aufdeckung und die ideologischen Rechtfertigungsversuche, sowie
die neuerstehende rechte Ideologie gehören zu jenen Themen, die Regine
Wagenknecht ausführlich in einer Veröffentlichungen 2005 bearbeitet
hat. ("Judenverfolgung in Italien 1938-1945"). Dieses immer
noch in Italien gern verschwiegene Thema ist in die Handlung der Novelle
eingeflochten. Angesichts der Unerträglichkeit, mit der im Text die
Aufklärung der Familiengeschichte durch den Vater hinauszögert
wird, fühlte ich mich irgendwann daran verinnert, wie quälend
lange es dauerte, bis die Verdeckungen, Verbiegungen und Beschönigungen
bei der Aufarbeitung der Nazigeschichte aufgebrochen waren.
Die
Einflechtung von Hinweisen auf Goethe sind keine Marotte der Germanistin
Wagenknecht, sondern von erschreckend anderer Bedeutung. Im Buch wird
eine mögliche Verbindung des Vaters zur Thulegesellschaft erwähnt.
In einem Text, der sich kritisch mit der real existierenden rechtsradikalen
Theoriegesellschaft "Thuleseminar" auseinandersetzt fand ich die Beschreibung
deren Geisteshaltung als "Rechtfertigungsideologie für die
Taten 'faustischer' Techniker". Durch diese Erläuterung begann
die Einbindung von Goethe-Zitaten für mich langsam verständlich
zu werden.
Faustus wird, nachdem er drei Morde begangen hat (!) die "Gnade durch den Schlaf
des Vergessens" zu teil (Goethes "Faust II"). Dieser Schlaf "Entfernt des Vorwurfs
bittre Pfeile, Sein Inneres reinigt von erlebtem Graus". Dies empfindet die
Tochter als "unerträgliche Szene angesichts der unzähligen Täter
und Schreibtischtäter."
Das Unverständnis über diese Darstellung Goethes war Anlass
für Wagenknecht, die Beschäftigung mit Goethe in die Handlung
der Novelle einzuflechten. Erste Ahnungen bezüglich der Rolle Goethes
in diesem Buch wurden rasant befördert nachdem ich ein paar Blicke
in das Buch "Goethe unser Führer" von Heinrich Frenzel 1922
geworfen hatte. Dort finden sich geradezu erschreckende Goethezitate voller
rassistischer, nationalistischer Gedanken. U.a. fand sich zum Vergessen
von Untaten folgendes Zitat: "Seelische Leiden, in die wir durch Unglück
oder eigene Fehler geraten, zu heilen vermag der Verstand nicht, die Vernunft
wenig, die Zeit viel, entschlossene Tätigkeit hingegen alles. Und
wenn nur Ordnung gehalten wird, so ist es ganz einerlei, durch welche
Mittel." (S.288 Frenzel 1922)
Betrachtet man nun noch einmal
die verschiedenen Stränge, die das Buch ineinander verwoben hat:
das politische Venedig, die Nazi-Vergangenheit, Geschichtsaufarbeitung
und Goethe, so sind das allesamt für sich genommen komplexe Themen.
Sie entfalten sich im Spannungsfeld Vater-Tochter-Kennenlernen literarisch
als Novelle. Es ist eine umfangreiche Aufgabe, all das zu erfassen, was
hinter den vielen beiläufig wirkenden Bemerkungen inhaltlich weiterführt.
Es zwingt sich nicht auf, aber es liegt bereit, entdeckt zu werden. Hinter
der dahinfliessenden Handlung der Novelle führt eine Vielzahl von
Pfaden thematisch in die Tiefe. Dabei wird nicht auf das Begehen dieser
Pfade gedrängt. Es wird nicht einmal allzu deutlich darauf hingewiesen.
Dennoch bestehen diese Möglichkeiten. Wer Hinweise auf solche Pfade
sucht, findet einige davon auch in den Fußnoten am Ende des Buches.
Wagenknecht,
Regine "Ein Treffen in Venedig", Novelle Verlag
Books on Demand, ISBN 978-3-8423-2644-6, Paperback, 140 Seiten, 8,90
€, 3. Aufl.
27.1.2011 (Das genannte Erscheinungsdatum ist politisch symbolisch! Deutscher
Gedenktag: 27. Januar 1945 Tag der Befreiung des KZ Auschwitz - Gedenktag für
die Opfer der Nazis) | |
Lesung
"Eure Ordnung ist auf Sand gebaut" Rosa
Luxemburg in Briefen, Reden und Artikeln ausgewählt und kommentiert von Regine
Wagenknecht und Marc Czichy. Eine Veranstaltung am 9.3.11 im ver.di-Haus,
Groner-Tor-Str. 32 Veranstaltungsnotizen
Es wurde mit verteilten
Rollen gelesen. Marc Czichy verlas die Rahmen- bzw. Hintergrundinformationen zu
den Texten von Rosa Luxemburg, die dann von Regine Wagenknecht (R.W.) vorgetragen
wurden; "vorgetragen" nicht gelesen, denn R.W. intonierte mit angemessener
Einfühlung Vorwürfe, Aufregung, Zugewandheit, Empörung und Entkräftung,
eben alles was in den Briefen und Texten vorkam. Besonders eindrucksvoll waren
die Texte der Anfangszeit, in denen deutlich wurde, wie Rosa Luxemburg mit den
Widrigkeiten umging, in die sie durch ihre intellektuelle Überlegenheit als
Frau in der damaligen Zeit geriet. Aus den von R.W. vorgetragenen Briefen wurde
klar, wie kompliziert es war, den scharfen Intellekt und die entsprechend scharf
gesetzten Worte in der Auseinanderzsetzung mit den Gefühlen zu ihrem Geliebten
zu verbinden. Zwischen den klaren analytischen Sätzen und einem plötzlich
eingeschobenen Satz "Weißt du eigentlich wie sehr ich dich liebe?"
wird keine gangbare Brücke erkennbar. Die beiden Bereiche bleiben getrennt.
Und im Verlauf der Entwicklung - lag es nun an der speziellen Auswahl der Texte
oder war es ein Merkmal der realen Entwicklung Rosa Luxemburgs? - breitete das
Politische sich über das ganze Leben aus, ordnete sich ihm alles unter. In
der Haft kam es dann zu Briefwechseln mit einer Freundin, von der sie betreut
und versorgt wurde, von der sie in ihrer Lage abhängig war und der gegenüber
sie ihre menschliche Lage schildert (Mathilde Jakob). In den Briefen an Mathilde
Wurm hingegen grenzten die Passagen der politischen Auseinandersetzung an Beleidigung
[Korrektur aufgrund eines Hinweises von R.W.: "
Von Mathilde Wurm, die R.L. politisch angreift, ist sie in keiner Weise abhängig;
die liebevolle Versorgung hat die im KZ ermordete Mathilde Jakob übernommen, und
die greift R.L. in keiner Weise an, im Gegenteil." Diese Notizen bis
hierher folgten einem besonderen Augenmerk auf das Verhältnis von Emotion
und Intellekt. Von den Fragen zu diesem Thema befreit waren die vorgetragenen
Passagen der politischen Reden und Briefe z.B. zum Militarismus und zur Kritik
an opportunistischen Vertretern der Sozialdemokratie. Einige Texte könnten
ohne weiteres für die heutige politische Auseinandersetzung recycled werden.
Artikel
zu Emmy Nöther und Göttingen-Roman Regine
Wagenknecht hat das Projekt der Göttinger Vierteljahreszeitschrift "Pampa"
unterstützt, das als Nachfolge der "Revue Regional" ins Leben gerufen
worden war und die Tradition der Göttinger Stadtzeitung als kritische Medienalternative
fortsetzte. Einen ihrer
Artikel aus der Pampa hat sie für goest überarbeitet und zur Veröffentlichung
überlassen. Dieser Artikel erinnert an die weltberühmte Mathematikerin
Emmy Noether , die in Göttingen gelehrt hat , an
die aber allzu wenig erinnert wird, obwohl ohne Emmy Nöther die moderne Mathematik
nicht denkbar wäre. Und noch ein weiterer Artikel von Regine Wagenknecht
findet sich in Goest: eine Rezension des Göttingen-Romans
"Das Buch Fritze". |