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Abriss eines Baudenkmals - Kurze Geismar Str. 30

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Göttinger Apell für den Denkmalschutz in den Innenstädten

Baudenkmal aus Unwissenheit abgerissen 16. 01. 06
Die Aufarbeitung einer Blamage 8.2.06

Göttinger Apell für den Denkmalschutz in den Innenstädten

20.1.08 / Die Fachtagung "Denkmalpflegerischer Umgang mit großflächigem Einzelhandel" am 14. bis 16. November 2007 in Göttingen verabschiedete als Arbeitsergebnis den "Göttinger Appell". Dieser ist jetzt vom Deutschen Städtetag veröffentlicht worden.

Göttinger Appell

Die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger, der Deutsche Städtetag und die Stadt Göttingen begrüßen die Orientierung weg von der "grünen Wiese", zurück in die Zentren der europäischen Städte. Sie appellieren an die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung, großflächige Einzelhandelskonzepte für die Innenstädte jeweils kritisch zu prüfen und nur in einer innenstadtverträglichen Größe und Dichte zu zulassen. Ein besonderes Augenmerk muss auch dem archäologischen, baulichen und gartenkünstlerischen Erbe gelten, das die Innenstädte zu einem Fundus kultureller Überlieferung in der europäischen Stadt macht. Eine qualitätsvolle Baukultur und verantwortungsvolle stadtplanerische Entscheidungen sind als gemeinsames Ziel zu verfolgen.
Eine Strategie, die Belebung und wirtschaftliche Stärkung der Innenstädte zu erhalten und gleichzeitig Verluste von kulturellem Erbe, Stadtbild- und Quartiersqualitäten zu minimieren erfordert, die Akteure im Interesse angepasster Lösungen frühzeitig zusammen zu führen. Das Vorgehen kann gelingen, je besser die Akteure darauf vorbereitet sind, je früher sie einbezogen werden und je stärker sie aktiv begleitend in die komplexen Entscheidungsprozesse eintreten können.
Die Städte und Gemeinden sollen ein planerisches Instrumentarium vorhalten: ein im Konsens entwickeltes städtebauliches Leitbild sowie darauf aufbauend aktualisierte Entwicklungs- und Flächenmanagementplanungen. Unabhängige und belastbare seriöse Verträglichkeitsgutachten sollen aktuell und die jeweiligen Strukturen aufnehmend vorgelegt werden, um nachhaltige Fehlentwicklungen zu vermeiden. Zur Entwicklung weiterer Steuerungsinstrumente muss der Entwicklungsgeschichte der europäischen Stadt größere Beachtung geschenkt werden:
Wie wurde in der Vergangenheit großer Veränderungsdruck ohne flächenhafte Zerstörung abgefedert? Die Schrumpfungsprozesse (Einwohnerzahlen - Kaufkraft - Arbeitsplätze - Infrastruktur) bedürfen der Begleitung und Steuerung.
Die staatliche und kommunale Denkmalpflege ist personell und finanziell so auszustatten, dass ein strategisch ausgerichtetes Denkmalmanagement, aktuelle Denkmalpflegepläne und Denkmalentwicklungskonzepte Realität werden. Die frühzeitige Beteiligung der Denkmalbehörden bei der allgemeinen Konzeptentwicklung und den Einzelmaßnahmen muss sichergestellt sein, um Konflikten vorzubeugen, Zeitverluste zu vermeiden und ein Miteinander zur Lösung der Aufgaben zu ermöglichen. Voraussetzung für einen integrierten Einzelhandel ist ein gleichberechtigtes Nebeneinander mit anderen, innerstädtischen Funktionen wie Wohnen, Kultur, Gewerbe und Verwaltung. Integrierter Einzelhandel und großflächige Einkaufscenter mit Parkflächen unter einem Dach sind in kleinteiligen, innerstädtischen Strukturen in der Regel nicht vereinbar. Großflächige Einkaufscenter sind nicht reversibel, da sie archäologische Denkmäler unwiederbringlich zerstören, auf Veränderungen im Einkaufsverhalten nicht flexibel reagieren können und ungeeignet für Rückbau- und Umnutzungskonzepte sind.
Großflächige Einkaufscenter sollten in Innenstädten nur dann genehmigt werden, wenn sie abgestimmten Konzepten zur Stadtentwicklung, des Einzelhandels und der Denkmalpflege nicht entgegenstehen. Das strategische Ziel ist eine sozial, wirtschaftlich und städtebaulich verantwortliche Stadtentwicklung, die dem Handel notwendigen Wandel ermöglicht, aber auch verantwortlich mit dem historischen Stadtraum und seinen Baulichkeiten umgeht.

 

 


Baudenkmal aus Unwissenheit abgerissen 16. 01. 06

Beim Bau des Kaufland-Supermarktes auf dem ehemaligen Lünemanngelände wurde ein Gebäude abgerissen, das 1392 erbaut worden war.
Handelsketten zerstören die historische Substanz der Innenstädte. Auf dem Baugelände in der Kurzen Geismarstrasse wurden vor einem Jahr nicht nur der historisch bedeutsame Walkenrieder Klosterhof mit dem spätklassizistischen Rundbogenhaus und die mittelalterliche Ummauerung des Dorfes Gutingi beseitigt, sondern unter anderem auch das Fachwerkgebäude Kurze Geismarstrasse 30, neben der historischen Hubertusapotheke. Weil ein aktuelles Inventar der denkmalwürdigen Objekte für Göttingen fehlt, wurde erst jetzt durch eine dendrochronologische Untersuchung erkannt, dass das äusserlich unscheinbare Bürgerhaus ums Jahr 1392 erbaut wurde. Wo andere Städte sich glücklich schätzen würden, auch nur ein Gebäude aus diesen Zeiten in ihren Mauern zu haben, ist Göttingen offensichtlich nicht einmal daran interessiert, seine Schätze zu zählen. Dazu Stadtbauhistoriker und Denkmalpfleger Dr. Jan Wilhelm: "Eine gründliche Untersuchung der denkmalwürdigen Gebäude hat es in Göttingen nie gegeben - in einer Stadt dieser Grössenordnung, die den Zweiten Weltkrieg nahezu unzerstört überstand und nie einen Stadtbrand erlebt hat, ein unentschuldbares Versäumnis!" (...) Nachdem der Umzug auf die grüne Wiese, der zahlreiche Kunden aus den historischen Zentren abgezogen hat, nahezu abgeschlossen ist, zielen die Investoren nun auf die Stadtzentren und Altstadtkerne.

Blick auf die Verkaufskiste aus Beton von Kaufland die sich in den Innenstadtkern schiebt. Links die Häuser der Kurzen Geismar Str.

Blick vom Neuen Rathaus aus.16.1.06

Die Investorengesellschaften gefährden bei ihrem Vorgehen nicht nur alteingesessene Einzelhändler mit kleinen Verkaufsflächen, sondern durch Abrisse und Umbaumaßnahmen historische Bausubstanz und damit die Identität der Städte. In Göttingen sind diese Vorgänge auf dem ehemaligen Lünemann-Gelände, bei der Stadtbad-Areal-Diskussion und dem Nikolaiviertel zu beobachten. Die Düsseldorfer Comfort-Gruppe plant entprechenden Frevel an historischer Bausubstanz bereits wieder in der Groner Straße.
(Nach einer Pressemitteilung des Vereins StadtundPlanung)

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Die Aufarbeitung einer Blamage
Kein Bedauern der Schuldigen, sondern Angriff gegen den Aufdecker des Desasters

Nachdem es überregional durch die Medien ging, dass in Göttingen "aus Versehen" ein 600 Jahre altes Baudenkmal abgerissen wurde war man gegenüber demjenigen der das aufgedeckt hatte anscheinend wirklich böse, denn es mußte seitens der Verantwortlichen als Blamage empfunden werden was da passiert war.
Statt sich in Bedauern zu üben und Besserung zu versprechen wurde Dr. Wilhelm als der Überbringer der schlechten Nachricht angegriffen. Aus dem Rathaus wurde ein offener Brief an Dr. Wilhelm verschickt bei dem wir nicht glauben können, dass er von Baudezernent Dienberg kommt. Obwohl sein Name im Absender steht ist er auch nicht von ihm unterschrieben sondern durch ein i.A. ...
Der ganze Brief wirkt wie das Verhör eines Schuldigen (und genau diesen Eindruck scheint man erwecken zu wollen) .... gerade so als ob er von einem Richter diktiert worden wäre ;-)

Offener Brief der Stadtverwaltung an Dr. Wilhelm 27.1.06

Sehr geehrter Herr Wilhelm,
sehr geehrte Damen und Herren
(...)
Eine vollständige Beantwortung meiner Fragen könnte gewiss zur Versachlichung der zum Teil emotionalen Diskussion der letzten Zeit beitragen.
1) Besaßen Sie - im Gegensatz zur Stadtfverwaltung - zum Zeitpunkt des Hausabrissen prüfbare Hinweise darauf, dass sich an dem Standort ein über 600 Jahre altes Fachwerkhaus befand?
2) Wenn ja, warum haben Sie die Stadtverwaltung und/oder die Öffentlichkeit über Ihre Erkenntnisse nicht rechtzeitig und zeitnah informiert?
3) Lässt nach Ihrer Meinung der Untersuchungsbefund eines einzelnen Fachwerkständers den Schluss zu, in der Kurze Geismar Straße 30 habe sich bis zum Abriss ein soweit intaktes 600 Jahre altes Gebäude befunden, das seinem Zustand und Charakter nach die Eigenschaften eines Baudenkmals besaß?
4) Falls ja, worauf gründen sich solche Annahmen?
5) Halten Sie es für denkbar, dass auf dem hausgrundstück zu einem gegenwärtig nicht zu bestimmenden Zeitpunkt Bauteile aus einem älterne (vielleicht in der Tat vor 600 Jahren errichten) Haus verwendet worden sind?
6) Halten Sie es für ausgeschlossen oder auch für wahrscheinlich, dass das haus nach den massiven Baueingriffen in den 60er Jahren des letzten jahrhunderts irreparabel die Eigenschaften eines Baudenkmals verloren hat?
7) Haben Sie prüfbare Hinweise darauf, dass die Inventarisierung der Göttinger Baudenkmale Anfang der 80er Jahre durch die Denkmalschutzbehörde des Landes Niedersachsen unvollständig oder nicht gründlich genug erfolgt ist?
8) Wenn ja, worauf fußen solche Einschätzungen?
(...)
Mit freundlichen Grüßen T. Dienberg , Stadtbaurat

 

Der Angegriffene bleibt souverän sachlich

Der Verein Stadt und Planung Göttingen e.V. bezeichnet dies zu recht als "seltsam anmutenden Anfrage des Baudezernenten an unser verdientes Mitglied Dr. Wilhelm". Der gute Herr Wilhelm bemerkte zwar auch den seltsamen, etwas unverschämten Stil des offenen Briefes antwortet aber dennoch ausführlich - allerdings ohne sich von dieser Art Fragerei beeindrucken zu lassen. (Im Folgenden Ausschnitte aus dem recht langen Brief Dr. Wilhelms, Bamberg 31.1.06)

Gebäudeabriß Göttingen, Kurze Geismarstr. 30 von 1392, Ihr Schreiben vom 27.01.2006

Sehr geehrter Herr Dienberg,

(...) Im Juni 2002 (...), fertigte ich in Absprache mit der damaligen "Göttinger Bürgerinitiative für Öffentlichkeit in der Stadtplanung" - Vorläufer des Vereins "stadtundplanung göttingen e. v." - in mehrwöchiger Arbeit unentgeltlich ein Gutachten zur Denkmaleigenschaft für die Bereiche Hempelgasse/Walkenrieder Schäferhof an. Dieses Gutachten legte ich im August 2002 in mehrfacher Ausfertigung dem Dezernat D Planen und Bauen vor. (...)
Da ich von der Stadtverwaltung keinerlei Resonanz erhielt, stellte ich das Gutachten am 15.10.2002 den Stadtratsfraktionen von CDU, SPD, FDP und den Grünen zur Verfügung. Ich zitiere aus dem Begleitschreiben: "Eine Bestandsanalyse der historischen Bebauung auf dem eigentlichen Lünemann-Gelände wäre angesichts der geplanten Abbrüche als Entscheidungsgrundlage unbedingt notwendig, existiert aber bis heute nicht - die Gebäude, die zur Disposition stehen (wie etwa das vor 1700 erbaute Nachbarhaus der Hubertus-Apotheke, Kurze Geismarstr. 30), sind weder erforscht noch dokumentiert."

(...) Insgesamt entstand bei mir der Eindruck, dass die Stadtverwaltung nicht an einer Untersuchung des Gebäudebestandes, geschweige denn an dessen Erhaltung interessiert war.

Zum Haus Kurze Geismarstraße 30, dessen Betreten und Untersuchen mir als Privatperson selbstverständlich nicht gestattet war: Dem äußeren Erscheinungsbild nach mußte es spätestens um 1700 entstanden sein, da die Stockwerkhöhen auffällig niedrig waren - die 1733 erlassene Göttinger Bauordnung schrieb schlicht vor, die Etagen "hoch" zu bauen. Das Fehlen einer Vorkragung bildete kein Indiz für ein geringeres Alter des Hauses, denn mit dem Erlaß der Bauordnung von 1833 wurde das Absägen vorkragender Geschosse sogar steuerlich gefördert: laut § 31 erhielt jeder Bauherr, der seinem alten Haus eine senkrechte Vorderseite gab, eine zweijährige Steuerfreiheit. Die Beseitigung von Auskragungen war also keinesfalls ungewöhnlich, sondern markiert ein wichtiges Kapitel der Baugeschichte Göttingens.


Um 1960 - Beide Fotos von Dr. Wilhelm zur Verügung gestellt

Oktober 2004 (einen Monat später war es abgerissen)

Im Oktober 2004 entdeckte ich beim Passieren der Abbruchstelle Kurze Geismarstr. 30, dass im ersten Obergeschoß noch sechs großdimensionierte Fassadenständer aufragten, die mit Hakenblattsassen für Kopfbänder, Schlitze mit den Resten abgestemmter Knaggen und seitlichen Ausnehmungen für Brustriegel unmißverständlich auf eine mittelalterliche Bauzeit verwiesen. Eine Zweitverwendung war absolut ausgeschlossen, da sich an den identisch abgezimmerten Ständern keinerlei Spuren vorhergehender Abzimmerungen befanden. Das Dendrolabor der Otto-Friedrich-Universität Bamberg konnte zwei dieser eichenen Fassadenständer mit je über 70 Jahrringen zweifelsfrei datierten. Die Fälljahre lagen zwischen 1388/89 und 1390/92, so dass das Hausgerüst um 1392 errichtet worden sein muß. Das Alter der Riegel ließ sich nicht bestimmen, und auf die Beprobung der typischen geschweiften Knagge, die von der Rückseite des Hauses stammt, wurde vorerst verzichtet. Auf den Ständern und einem Riegel fanden sich Reste einer roten Farbfassung. Zur Konstruktion läßt sich sagen, dass die Aussteifung des Baus durch nach innen weisende Kopfbänder für Göttinger Bürgerhäuser dieser Zeit charakteristisch war, wie unter anderem das dendrochronologisch auf 1429 datierte Haus Rote Str. 14 belegt.

Von den vermuteten irreparablen Eingriffen der 1960er Jahre, die die Denkmaleigenschaft des Hauses - als einem von bundesweit 100 - 150 erhaltenen Exemplaren dieses Alters - in Frage gestellt hätten, kann keine Rede sein. Schon die wenigen, im Göttinger Tageblatt vom 18.1.2006 abgebildeten Abbruchfotos belegen, dass die Wände und Decken des ersten Obergeschosses größtenteils im Originalzustand erhalten waren, einschließlich Staken und Lehmausfachung. Der Vergleich mit der ebenfalls veröffentlichten Aufnahme von 1955 zeigt, dass auch das angeblich entstellte Äußere weitgehend intakt war. Der Baukörper hätte sich problemlos wieder auf das klassizistisch-historistische Erscheinungsbild zurückführen lassen, und zwar durch Anbringung neuer Fensterbekleidungen und eines zurückhaltenderen Gestaltung des Ladengeschäfts im Erdgeschoß. Eine Rekonstruktion des mittelalterlichen Zustands hätte ohnehin allen denkmalpflegerischen Prinzipien widersprochen. (...)

Mit freundlichen Grüßen

Dr.-Ing. (des.) Dipl.-Geogr. Jan Volker Wilhelm

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